Revolution auf der Bühne

von Wolfgang Häusler

Foto: Katrin Bruder / Picturedesk

Während der Arbeit an »Es muß geschieden sein« entwickelte sich ein lebhafter Austausch zwischen Peter Turrini und unserem Autor. Ein besonderer Gruß anlässlich Turrinis 80. Geburtstag am 26. September.


2264 wörter
~10 minuten

Seinem Revolutionsstück Es muß geschieden sein stellte Peter Turrini die Frage voran: »Was geschieht, wenn Kunst und Wirklichkeit aufeinanderprallen?« In ihrem 175. Gedenkjahr blieb die unterdrückte Revolution von 1848 hierzulande und anderswo verdrängt und vergessen. Turrinis aufrüttelnde Tragikomödie ist die Ausnahme, und was für eine – »für diesen großen Befreiungsversuch«. Österreichs wichtigster Dramatiker der Gegenwart, der am 26. September 80 Jahre alt wird, zieht mit diesem Theaterstück die Bilanz seiner »60-jährigen Theaterdichterei«.

Die Entstehungsgeschichte des expliziten Revolutionsstücks Es muß geschieden sein wurzelt tief im Werk Turrinis. Zu Der tollste Tag hielt er schon 1972 fest: »Das Theater hat, wenn überhaupt, die Funktion des Widerstands.« – »Revolution? Revolution!« Diese Schlussworte des Tollsten Tages zum letzten Mittel dieser Aktualisierung und Zuspitzung des sozialen Konflikts gelten dem Sturmvogel der Französischen Revolution, Beaumarchais. Dies bedeutete den Aufbruch des krassen Realismus in den sogenannten Volksstücken Rozznjogd und Sauschlachten (1971/72) in die historische Dimension, das Weiterführen des Angriffs auf die angemaßten Vorrechte der Aristokratie an seinem Ursprung – Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit (1784), unsterblich geworden dank Mozarts Oper Le nozze di Figaro (1786). Mit der zunächst befremdlichen Zusammenfassung von Da Ponte in Santa Fe (2002), Der Riese vom Steinfeld (mit Musik von Friedrich Cerha, 2002) und Mein Nestroy (2006) als Historische Dramen (2008) wird sein Verständnis von Theater und Geschichte deutlich: »Es wird wohl so sein, wie es seit 40 Jahren mit meinen Stücken ist: beides zugleich, Komödie und Tragödie.«

Dies ist der rote Faden in den ästhetischen Metamorphosen »von der Schocktherapie zur bühnenwirksamen Sensibilität« (Ewa Krupa) der Werke Turrinis. Am Beispiel Nestroys wird dieses lebhafte Interesse an der Spannung zwischen Biedermeier und Vormärz, der Inkubationszeit der Revolution(en) des 19. Jahrhunderts, deutlich. In der gemeinsam mit Marie Weiler betriebenen Bühnen-(und Geschäfts-)praxis entwickelt sich die Sozialkritik des Lumpazivagabundus. Die Beibehaltung des Textes des Kometenlieds, ohne die üblichen aktuell sein sollenden Zusatzstrophen, ist überzeitlich. Die gemeinsam mit Johanna Doderer erarbeitete Oper Schuberts Reise nach Atzenbrugg demolierte mit Bettlern und Kriegsinvaliden am Straßenrand der Schubertiade vollends das immer noch dominante Biedermeierklischee (Auftragswerk des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz 2021). Das Faktum der zeitlichen Nachfolge von Raimunds Verschwender (1834) auf Nestroys Lumpazivagabundus (1833) ist Ausdruck dieses Epochenwiderspruchs.

Diese Dialektik ist die Kraftquelle des von Johannes Krisch angeregten Stücks für die Raimundspiele, an dem Turrini zwei Jahre arbeitete. Hier in Gutenstein, im von der Tourismuswerbung sogenannten Biedermeiertal der Piesting, wo im 19. Jahrhundert Holzknechte, Waldbauern und Kohlenbrenner den sozialen Hintergrund am Rand der frühen Industriezonen des Wiener Beckens bildeten und wo Raimund mit Villa und Grab tragisch gegenwärtig ist, explodierte diese Spannung: Die Welturaufführung am gewitterdrohenden Abend des 13. Juli 2023 wurde zum mit Standing Ovations für Autor und Ensemble gefeierten Erfolg, mit Widerhall weit über die Region hinaus.

Die vereinbarte Koproduktion und Transferierung des Stücks an das Theater in der Josefstadt (Uraufführung am 11. Jänner 2024) hatte eine innere Logik: die gelungene Rückführung in die Tradition des Vorstadttheaters und seines Publikums, als Winterreise und somit Synthese und Überhöhung von Alpen- und Arbeitersaga der 1980er-Jahre.

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