160 Jahre Erste Internationale: Zwischen Emanzipation und Spaltung

von Jens Kastner

Am 28. September 1864 wurde die Erste Internationale gegründet. Sie markiert nicht nur den Aufbruch der europäischen Arbeiterbewegung, sondern steht auch für Konflikte, die die Linke bis heute beschäftigen.


1274 wörter
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Die Statuten der Internationale, schrieb der Anarchist Michail Bakunin, enthalten alle Ansätze einer Sozialrevolution: »den Sturz des Bestehenden und die Schaffung einer neuen Welt«. Abgedruckt sind die Statuten auch in Band 16 der Werke von Marx und Engels. Über die Frage, wie sie zu interpretieren sind, herrschte allerdings alles andere als Einigkeit.

Am 28. September 1864 fand in der Londoner St. Martin’s Hall die Gründungsversammlung der Ersten Internationale statt, die sich als Internationale Arbeiterassoziation (IAA) gründete. Versammelt waren Vertreter:innen verschiedenster Organisationen der Arbeiterbewegung aus unterschiedlichen Ländern Europas. Die Internationale bestand in den Jahren darauf in Form von Kongressen und Konferenzen, die von regen Debatten und teils unerbittlich geführten Streitigkeiten in Zeitschriftenartikeln und Briefwechseln flankiert wurden.

Unterschiedliche Strömungen

Auch wenn die Internationale rückblickend als Ausdruck der »Verwirklichung der großen Idee der Einheit und kämpferischen Solidarität des internationalen Proletariats, die Marx und Engels unermüdlich propagierten« gelesen wurde, wie es das Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee (ZK) der SED im Vorwort zum 16. Band der Marx-Engels-Werke formuliert, war diese Organisation doch keineswegs so eindeutig der Effekt und Ausdruck der Arbeit von Karl Marx und Friedrich Engels. Obwohl nicht an der Vorbereitung beteiligt, wurde Marx zwar in den Generalrat der Internationale gewählt. Diese aber war zunächst vor allem ein Sammelbecken unterschiedlicher Strömungen der Arbeiterbewegung: »Die Internationale bot aufgrund ihrer pluralistischen Organisationsstruktur den verschiedenen sozialistischen Richtungen ihrer Zeit eine Plattform«, schreibt etwa der Anarchismushistoriker Wolfgang Eckhardt. Die Organisationsform wurde schließlich auch zu einer der am heftigsten umstrittenen Fragen. Mit dem Generalrat wollte Marx seine Position der Parteiform als einheitliche Linie durchsetzen, die antiautoritäre Strömung, vertreten durch die Delegationen aus einigen romanischen Ländern und der Schweiz, bestanden auf föderalen Strukturen.

Mit der Organisationsfrage einher ging die Frage der grundlegenden Ausrichtung der Politik der Internationale. Im unmittelbaren Nachklang der Gründung der Ersten Internationale schrieb Marx im Oktober 1864 in der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, dass die Erfahrung der Missachtung des »Bandes der Brüderlichkeit« die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklassen geschwächt habe und aus diesem Bewusstsein heraus die Internationale gegründet worden sei. Eines der Ziele der Internationale beschreibt Marx so: »Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen«, Mittel dafür ist Marx eindeutig die »Reorganisation der Arbeiterpartei«.

Uneinigkeit bei Schlüsselfragen

Demgegenüber hatten die Vertreter:innen des antiautoritären Flügels ganz anderes im Sinn: Für die Föderalist:innen war klar, wie es im von der Schweizer Juraföderation herausgegebenen Zirkular von Sonvillier 1871 hieß, dass »die künftige Gesellschaft (…) nichts anderes sein (soll) als die universelle Anwendung der Organisation, welche die Internationale sich gegeben hat«. Die Vorwegnahme der zukünftigen Gesellschaft in den eigenen Organisationsformen blieb ein anarchistischer Anspruch auch für die Jahrzehnte danach. »Da die Organisation der Internationale nicht das Ziel hat«, schrieb Bakunin in »Die Organisation der Internationale« 1872, »neue Staaten oder Despotien zu schaffen, sondern alle Herrschaftsformen radikal zu beseitigen, muss sie sich von der Organisation der Staaten grundlegend unterscheiden«.

Die Politiken der Internationale waren auch Kämpfe um die legitime Auslegung ihrer in den Statuten festgehaltenen Gründungsideen, darunter die »vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse«, die »Vereinigung der zerstreuten Arbeitergesellschaften« und »die brüderliche Unterstützung der mitverbündeten Arbeiter«. Besonders brüderlich ging es allerdings häufig nicht zu. Die Auseinandersetzungen darüber, wie die Schaffung einer neuen Welt in die Praxis umgesetzt werden sollte, wurden erbittert geführt. Marx sparte nicht mit Polemik und beschimpfte Bakunin als ahnungslos in Sachen Theorie und nannte ihn ein »Vieh«. Marx und Engels zielten darauf, die Organisationsfrage an die äußeren politischen Notwendigkeiten zu knüpfen. Die Eroberung der Staatsmacht stand der Strategie der Vorwegnahme entgegen, die Marx und Engels für ein Sektenwesen hielten. An der Uneinigkeit hinsichtlich der beiden Schlüsselfragen zerbrach die Internationale schließlich. Auf dem Kongress in Den Haag 1872 schloss der Generalrat Bakunin und den Schweizer Anarchisten James Guillaume aus der Internationale aus. Damit war die Spaltung vollzogen.

Klasse vs. Identität

Ausgeschlossen wurde im gleichen Jahr auch die US-amerikanische Sektion um Victoria Woodhull. Die Frauenrechtlerin und Börsenmaklerin aus armen Verhältnissen gab mit ihrer Schwester, Tennessee Claflin, die Wochenzeitschrift Woodhull’s & Claflin’s Weekly heraus und war eine Verfechterin der Frauenemanzipation und der »freien Liebe«. Für Friedrich Engels war ihre These, gleiche Rechte für Frauen und Männer müssten den allgemeinen Veränderungen im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit vorausgehen, nur »Unfug«. Er beschrieb den Konflikt zwischen der US-Sektion und dem Generalrat, der schließlich im März 1872 zum Ausschluss Ersterer führte, als einen Krieg zwischen »Staatsausbeutern, Stellenjägern, Freiliebenden, Geisterklopfern und anderen bürgerlichen Schwindlern« auf der einen und Arbeitern auf der anderen Seite.

Diese Abgrenzungen des Parteisozialismus gegenüber antiautoritären und protofeministischen Positionen prägte viele Debatten und Politiken im 20. Jahrhundert. Sie hallt schließlich noch in den Diskussionen um den vermeintlichen Widerspruch zwischen Klassenkampf und Identitätspolitiken bis in die Gegenwart nach.

Internationalismus

Mindestens einen weiteren Nachhall gibt es noch: Marx formulierte in der Inauguraladresse eine weitere Pflicht für die Internationale. Es gelte, schrieb er, in »die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen«, um die Politiken der jeweiligen Regierungen zu kontrollieren und ihnen entgegenzuwirken. »Der Kampf für solch auswärtige Politik«, so endet die Inauguraladresse, »ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«

Dieser Fokus auf die internationale Politik war einerseits Gebot der Analyse, andererseits auch politischer Interventionsanspruch. Ein Beispiel für die Verknüpfung von Analyse und Intervention hinsichtlich der »internationalen Politik« ist die Haltung von Marx zum Kampf um die irische Unabhängigkeit. Während einige Bakunisten die Unterstützung des nationalen Unabhängigkeitskampfes ablehnten, sah Marx in ihm ein Mittel, den englischen »Landlordismus« zu schädigen. Es ging darum, die soziale Revolution in England zu beschleunigen, und dazu gelte es, den »entscheidenden Schlag in Irland« zu führen.

Neue Versuche

Der Kampf um nationale Befreiung in der Kolonie wurde in Zusammenhang mit den Kämpfen des Proletariats in der Metropole gebracht, also zur Voraussetzung für deren Erfolge erklärt. Mit der Forderung nach Unabhängigkeit, kommentiert das ZK der SED, trug Marx zur »Weiterentwicklung der Prinzipien der proletarischen Nationalitätenpolitik bei«. Es war schließlich die Dritte Internationale (1919–1943), die Komintern, die, wie der Historiker und TAGEBUCH-Redakteur David Mayer herausgestellt hat, »›koloniale Befreiung‹ und ›antiimperialistischen Kampf‹ als zentrale Horizonte ihrer Arbeit« definierte.

Das Ende der Internationale wird gemeinhin in Folge des Haager Kongresses 1872 angesetzt, auf dem sie sich spaltete. Offiziell aufgelöst wurde die Internationale auf der Konferenz des Generalrates 1876 in Philadelphia. Das Scheitern der Internationale aber war nicht allein den inneren Spaltungen geschuldet. Ulrich Peters schildert in seinem Buch Kommunismus und Anarchismus. Die Zeit der Ersten Internationale (1997) ausführlich den »nach dem Fall der Pariser Kommune einsetzenden Rachefeldzug der europäischen Reaktion«. Auf Bismarcks Initiative hin versuchten die europäischen Großmächte mit Repressionsgesetzen konzertiert gegen die IAA vorzugehen, was auch ohne die Beteiligung Englands, dessen Regierung sich gegen Sondergesetze gegen die Unterstützer:innen der Kommune und die IAA stellte, seine Wirkungen zeitigte.

Alle Bestrebungen der verschiedenen Fraktionen, die Internationale am Leben zu erhalten, resümiert Peters, »schlugen früher oder später fehl«. Dennoch blieb die Internationale ein immer wieder formulierter Anspruch der sozialistischen Bewegungen und Theorie, sodass es auch zu neuen Versuchen ihrer Umsetzung kam, in der von den Anarchist:innen gegründeten Antiautoritären Internationale, in der sozialistischen Zweiten, der kommunistischen Dritten und der trotzkistischen Vierten Internationale, selbst noch in der von Künstler:innen 1957 gegründeten Situationistischen Internationale und der globalisierungskritischen Bewegung ab den 1990er-Jahren.

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