Allendes Chile durch Hobsbawms Augen

von David Mayer

An dieser Stelle dokumentieren und kontextualisieren wir Beiträge aus fast fünf Jahrzehnten TAGEBUCH. In dieser Ausgabe: Eric J. Hobsbawm über die Regierung Salvador Allendes.


504 wörter
~3 minuten

Vor 40 Jahren, am 4. September 1970, konnte (der drei Jahre später durch einen Militärputsch entmachtete) Salvador Allende als Kandidat der Unidad Popular (UP) die chilenischen Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden. Aus diesem Anlass geben wir Auszüge aus einer langen Analyse von Eric J. Hobsbawm (1917–2012) wieder, dem wohl bekanntesten Historiker der zweiten der Hälfte des 20. Jahrhunderts, der regelmäßig im Wiener Tagebuch veröffentlichte. Hobsbawms Beitrag war die erste eingehende Auseinandersetzung mit Allendes Regierung ein Jahr nach Amtsantritt. Dabei leugnet er seine Sympathien für Allendes »demokratischen Weg zum Sozialismus« nicht, bleibt jedoch scharfen Sinnes und deutet das chilenische Experiment auch durch eine revolutionshistorische Linse.

Eric J. Hobsbawm

Chile: Das erste Jahr

»Das chilenische Experiment ist daher weit mehr als ein Stück politischer Exotik für Beobachter aus entwickelten Ländern. Der Sozialismus wird nie auf dem chinesischen oder vietnamesischen Weg nach Westeuropa kommen, aber es ist zumindest möglich, in Chile die Umrisse politischer Situationen, die sich auch in der Industriegesellschaft ergeben könnten, und eine dort anwendbare Strategie wie auch die Probleme und Schwierigkeiten des ›pluralistischen Weges‹ zu sehen. 

[…]

Aber die natürliche Sympathie für Allende und die leidenschaftliche Hoffnung auf seinen Erfolg sollten uns nicht blind machen für die Schwierigkeiten der Lage. Eben weil Chile tatsächlich ein Modell für andere Länder sein könnte, müssen wir seine Erfahrungen kühl und realistisch betrachten.

[…]

Wer schon Revolutionen mitangesehen hat, vermißt bei der Ankunft in Santiago die schwer definierbare, aber unverwechselbare Atmosphäre einer großen Volksbefreiung. […] Es herrscht solide Befriedigung bei der organisierten Linken, ruhige, unmessianische Erwartung bei den unorganisierten Armen und Hysterie bei der Rechten und ihren Sprechern.

[…]

Viele Probleme der UP liegen außerhalb ihres Einflussbereichs, aber in drei Punkten ist dies nicht der Fall.

Der erste ist das Tempo. Revolutionäre Veränderungen hängen davon ab, daß man die Initiative ergreift und behält. Das gilt auch für verfassungsmäßige Revolutionen. 

[…]

Das wird dadurch erschwert, dass die UP eine Koalition ist; dies ist ihre zweite ernste Schwäche. Um es kraß auszudrücken, die UP ist ein Fahrzeug, das sich mehr zum Bremsen als zum Fahren eignet.

[…]

Drittens hat die UP bisher die Massen nicht genügend mobilisiert. Hier spiegeln sich wieder einmal die Schwächen ihrer historischen Eltern, des bürgerlichen Parlamentarismus und der klassischen sozialistischen Arbeiterbewegung.

[…]

Im politischen Sinn hat der chilenische Weg noch nicht bewiesen, daß eine Volksfrontregierung, wie dynamisch und entschlossen sie auch sein mag, eine Revolution bedeutet. Sie bleibt gefesselt, nicht nur von äußeren Kräften, sondern auch vom Wesen des politischen Systems und der Situation, denen sie entsprungen ist, sowie von den politischen Kräften, die in ihr vereinigt sind.

[…]

Wollte man auf Allende wetten, dann würde man – die Sympathie für ihn eingerechnet – vielleicht vier zu sechs auf ihn setzen, unter Abrechnung der Sympathie eher eins zu zwei. Das ist viel mehr, als irgendwer unmittelbar nach der Oktoberrevolution auf die Bolschewiki gesetzt hätte.«

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