André Gorz über die schöne neue Arbeitswelt

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 12, Dezember 1972


446 wörter
~2 minuten

Der aus Österreich stammende französische Sozialphilosoph André Gorz (1923–2007) war eine der schillerndsten Figuren linken Denkens im 20. Jahrhundert: Zuerst Weggefährte Jean Paul Sartres, dann Vordenker der Umweltbewegung, in den 1980er Jahren berühmt geworden mit seinem Essay Abschied vom Proletariat. Gorz beschäftigte sich seit den 1960er Jahren immer wieder mit Fragen der Arbeit im Kapitalismus. Im folgenden Text lässt er jenen historischen Moment spürbar werden, da sich im fortgeschrittenen Kapitalismus die tayloristische Disziplin der klassischen Fliesbandfabrik als Arbeitsmodell zu erschöpfen begann. Es wurde jener Prozess initiiert – flache Hierarchien, Selbstverantwortung, Initiative –, der im heutigen Silicon-Valley-Kapitalismus bis zur Illusion von Arbeit als freundschaftlichem Spiel gesteigert wurde. Gorz ist nicht prinzipiell gegen Versuche, Arbeitsprozesse weniger repressiv zu gestalten, warnt allerdings: Wenn solche Reformen von oben kommen, ändern sie an der Instrumentalisierung für die Kapitalakkumulation nichts.

André Gorz

Betriebsdemokratie: Fortschritt für wen?

»Der Betriebsdespotismus ist so alt wie der Industriekapitalismus selbst. Die Produktionstechniken und die durch sie bedingte Arbeitsorganisation haben stets ein doppeltes Ziel: die Arbeit für den Kapitalisten so ertragreich wie möglich zu machen und zu diesem Zweck aus dem Arbeiter mit Hilfe der Produktionsmittel […] ein Maximum an Leistung herauszuholen. 

[…]

Manche Unternehmer haben entdeckt, daß die repressive Arbeitsorganisation mit dem Widerstand, der Gleichgültigkeit und der Feindseligkeit, die sie hervorruft, der Firma den Schatz des schöpferischen Erfindungsgeistes der Arbeiter vorenthält.

[…]

Wo man es mit Erweiterung und Bereicherung der Aufgaben versucht hat, waren die Ergebnisse meist positiv. Beweist dies, daß ›die‹ Arbeiter mit ›der‹ Arbeit versöhnt werden können, daß die Absurdität der Arbeit und die Ausbeutung der Arbeiter sich damit verhüllen lassen? […] Daß die Abschaffung des Betriebsdespotismus, die Einführung der ›Betriebsdemokratie‹ möglich geworden ist und im Interesse des Kapitals liegt?

[…]

Die Bedeutung neuer, nichtdespotischer Formen der Arbeitsorganisation hängt also – wie die Bedeutung jeder Reform – davon ab, unter welchem Kräfteverhältnis sie eingeführt wurden. Geschieht es auf kaltem Wege, auf Initiative des Chefs […], kann die Reform für das Kapital rentabel sein und seine Hegemonie zumindest zeitweise festigen. Werden jedoch die neuen Formen der Arbeitsorganisation durch organisierten Kampf der Arbeiter erzwungen, dann bekämpft der Unternehmer sie als eine mit seiner Autorität unvereinbare Arbeitermacht […].

[…]

Die Psychosoziologen behaupten, ›saubere Arbeit‹, die Intelligenz, Verantwortlichkeit und ›Kreativität‹ erfordere, sei an sich sinnvoll, unabhängig von ihrem Endzweck. Scherz beiseite: Kann man einen Sinn finden in der Montage von Fernsehgeräten, wenn die Programme idiotisch sind, in der Herstellung von Wegwerfstoffen und rasch veraltenden Personenautos, die in Kolonnen dahinkriechen? Welchen Sinn hat eine Arbeit, deren Hauptzweck (die Kapitalakkumulation) keinen hat? Die Bekämpfung der kapitalistischen Arbeitsorganisation impliziert die Bekämpfung des gesamten Systems.«
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