Lebendige Artefakte

von Jana Volkmann

In historischen Romanen und Filmen müssen jeder Hut und jede Locke sitzen, jede Zigarette muss die richtige Marke haben. Sind solche Gegenstände mehr als Staffage? Eine Spurensuche.

Die Serie Chernobyl, eine Kollaboration von HBO und Sky, wurde weitgehend positiv rezipiert. Kritikerinnen überschlugen sich wegen des herausragenden Casts und der Dramaturgie der Serie, die ein zeitgeschichtliches Ereignis, über das man einiges zu wissen glaubte, derart packend erzählt. Für Begeisterung sorgte auch die beeindruckende Akribie, mit der die Ausstatter vorgingen; all die Tangibilia, die das Sowjet-Setting nicht museal erschienen lassen, sondern gegenwärtig: die schweren gläsernen Aschenbecher, die Helme der Feuerwehrleute, die schnittig gebundenen Krawatten hoher Funktionäre. Doch es gab Gegenstimmen, die den sichtbar hohen Anspruch der Serie an Faktentreue und Glaubwürdigkeit nicht erfüllt sahen. Besonders prominent äußerte sich Masha Gessen im New Yorker: »What HBO’s Chernobyl got right and what it got terribly wrong« – der Titel ihres Essays enthält direkt ihr Verdikt. Darin heißt es in einer Randbemerkung: »(There are tiny errors, like a holiday uniform worn by schoolchildren on a non-holiday, or teen-agers carrying little kids’ school bags, but this is truly splitting hairs.)«. Das also sind die kleinen, die verzeihlichen Fehler. Die großen sieht Gessen im Versäumnis, die für die Serie absolut zentralen sowjetischen Machtdynamiken so darzustellen, wie sie waren. Das ist in der Tat kein kleiner Lapsus, wenn man bedenkt, wie sehr die lange Vertuschung des Ausmaßes der Katastrophe auf politische Motive einer ihr Ansehen verteidigenden Obrigkeit zurückzuführen war. Eine gute Woche nach Gessens Artikel veröffentlichte die BBC einen Artikel, in dem Überlebende der Katastrophe zu Wort kamen, darunter Einsatzkräfte der lokalen Feuerwehr und andere Ersthelferinnen. Zu den nicht ganz akkurat dargestellten Szenen in der Serie gehört den Zeugen zufolge eine, in der den Einsatzkräften im großen Stil applaudiert wird. Das sei so nicht geschehen, sagt ein Überlebender, denn man habe ja bloß seine Arbeit getan – und wer solle dafür schon klatschen.

Wenn man sich die ähnlich gelagerten Besprechungen historischer Erzählungen – das gilt für Romane genau wie für Filme und Serien – durchliest, bekommt man den Eindruck, dass man sich als Autorin beinah zwingend entscheiden soll: zwischen einem genuin ästhetischen (und offen mit Verfremdungen und Ausschmückungen arbeitenden) und einem genuin dokumentarischen Zugang zu den Stoffen. Das wäre aber eine reichlich naive Annahme, zumal schon die ihr zugrunde liegenden Vorstellungen von Fiktion und Wahrheit naiv sind, genau wie die von Geschichte und Narration, von Realismus und seinen Antinomien. »Die Fiktion ist kein Trugbild«, schreibt Jacques Rancière an einer Stelle in seinem Essay zur Politik der Literatur. »Sie ist eine Anordnung.«

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