Ohnmacht und Tanz

von Jana Volkmann

Vor 40 Jahren kamen in Wien Schriftsteller zusammen, um ihre Rolle in der Gesellschaft zu debattieren und kulturpolitische Forderungen zu formulieren. Wie sähe das heute aus?

Getanzt worden sei bis in die Morgenstunden. Kurz nach Mitternacht sei der Notarzt gekommen, weil eine Autorin beim wilden Feiern ohnmächtig zusammengebrochen war, erzählt Gerhard Ruiss vom Fest zur Eröffnung des Literaturhauses Wien vor 30 Jahren. Tausende Menschen hätten diesen denkwürdigen Moment in und um das Gebäude in der Zieglergasse im siebten Bezirk gefeiert. Es war das erste Literaturhaus Österreichs. Die Beschreibung der ausgelassenen Stimmung, der Unterstützung aus politischen Kreisen und der Bevölkerung mutet heute fast surreal an. Damals habe er Politiker direkt angerufen, in ihren Büros besucht, von Angesicht zu Angesicht Wünsche und Probleme der Schriftstellerinnen und Schriftsteller diskutiert. Gerhard Ruiss von der IG Autorinnen Autoren ist die Begeisterung anzusehen, während er am Abend des 22. Septembers 2021 vor einem schütter besetzten Saal am Podium mit dem Leiter des Literaturhauses, Robert Huez, und der Vorsitzenden der Übersetzergemeinschaft, Brigitte Rapp, spricht. Wie viele Besucher gekommen wären, wäre das Fest ein wirkliches Fest gewesen und nicht den Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus zum Opfer gefallen, wissen wir nicht. Vielleicht Tausende?

Die Mitwirkung der Schriftstellerinnen besteht diesmal vor allem in schriftlichen Statements zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft, persönlich anwesend zur Feier des Tages sind nur einzelne, an einer Hand abzuzählen. Von farbigen Quadraten unterlegt zieren die Texte eine Seite des Ausstellungsraumes, Fotos zum Schriftstellerkongress aus der Sammlung der Autorin und Fotografin Heide Heide sind auf den anderen Wänden zu sehen. Der Titel der Ausstellung, »Organisieren Sie sich!«, ist eine Aufforderung des damaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky. Er erschien höchstpersönlich beim ersten österreichischen Schriftstellerkongress, zehn Jahre vor Gründung des Wiener Literaturhauses. Drei Tage, vom 6. bis 8. März 1981, dauerte die Versammlung im Wiener Rathaus. Alle kamen. Manche der Autorinnen, die sich damals trafen, waren richtiggehend verfeindet, weiß Gerhard Ruiss zu berichten, legten persönliche Antipathien aber beiseite, um die Stellung von Schriftstellern in der Gesellschaft zu verbessern. Konkrete Forderungen vor 40 Jahren betrafen Urheberrechtsfragen, soziale Absicherung, sogar die Vergütung des Abdrucks literarischer Texte in Schulbüchern.

In der Aufbruchstimmung nach dem Kongress formulierten die Organisatoren, Hannes Vyoral und Gerhard Ruiss, die Anliegen der Schreibenden unter dem Titel Die Freiheit, zu sehen, wo man bleibt und gründeten die IG Autorinnen Autoren, die seither viel für die Verbesserung der Situation getan hat: Bibliothekstantiemen, eine Vielzahl von Förderungen und Stipendien und die Künstlersozialversicherung für Geringverdiener. Die Mitgliedschaft kostet nichts, und auch wer nicht Mitglied ist, kann sich mit berufsspezifischen Fragen an die IG wenden. Seit 39 Jahren ist Gerhard Ruiss Geschäftsführer, Präsidentin ist seit 2006 die Schriftstellerin Renate Welsh, sie wird bald 85. Werden sich Jüngere finden, die mit ähnlichem Enthusiasmus die Interessen von Autorinnen öffentlich vertreten?

»Wäre jetzt nicht ein logischer Zeitpunkt für eine Art General Assembly der Schreibenden?«

Einen zweiten österreichischen Schriftstellerkongress hat es bisher nicht gegeben. Das bedeutet nicht, dass kein Diskussionsbedarf besteht. Auch eingedenk der sich verändernden Produktionsbedingungen von Literatur: etwa durch neue Möglichkeiten und somit neue Regeln der Selbstvermarktung, die zunehmende Signifikanz von Agenturen oder, besonders sichtbar in Österreich, die Gründungen zahlreicher unabhängiger Verlage. Hinzu kommen Themen, die es immer gab, aber nun offener diskutiert werden. Wie sich etwa Schreiben und Sorgearbeit besser vereinbaren lassen, ist anderenorts bereits Gegenstand lebhafter Debatten – hauptsächlich in den sozialen Medien, aber nicht nur dort. Aus dem Bedürfnis heraus, die Verhältnisse transparent zu machen und zu verändern, hat sich Writing with CARE/RAGE gebildet: »ein Kollektiv schreibender Mütter, das sich für die Vereinbarkeit von künstlerischer Arbeit und Sorgearbeit / Care einsetzt«, so die Selbstauskunft.

Im vergangenen Sommer fand in Berlin eine Konferenz mit Diskussionen und Workshops statt. Auch das Kollektiv »other writers need to concentrate« wurde aus einem spezifischen Mangel heraus ins Leben gerufen: Aufenthaltsstipendien, bei denen Kinder mitgenommen werden dürfen, sind rar gesät. Im Übrigen ist es, sogar wenn Kinder erlaubt sind, schwierig, monatelange Abwesenheiten vom Wohnort mit der Schulpflicht zu vereinbaren. Dadurch kommen Autorinnen, die Eltern sind, um eine wichtige Einnahmequelle; Residencys gehen obendrein mit Bekanntheit, Aufmerksamkeit, Kontakten einher. Ähnlich verhält es sich mit Lesereisen.

Erst kürzlich haben Publikationen die Arbeitsbedingungen Schreibender ins Visier genommen (siehe dazu die Rezension zur Anthologie Brotjobs & Literatur auf Seite 52), die Verflechtungen von Markt und Literatur hat zuletzt die Literaturwissenschafterin Carolin Amlinger in einer wegweisenden, historisch fundierten Studie akribisch untersucht (Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Suhrkamp, 2020). Als im Dezember 2021 der Soziologe und Verleger Frank Benseler starb, war in zahlreichen Nachrufen von seinem Engagement für die »Literaturproduzenten« zu lesen – einen Verbund aus Lektoren und Verlagsmitarbeiterinnen, Schriftstellerinnen und Buchhändlern, der in den späten 1960er Jahren im Zuge einer Mobilisierung der linken Buchbranche entstand und das Ziel hatte, die Institutionen des Betriebs von ihrem tausendjährigen Muff zu befreien. »Radikaler als die Gewerkschaft und inspiriert von linken APO-Ideen agitieren die Literaturproduzenten«, schrieb 1969 Der Spiegel, »insbesondere gegen den als Hort hierarchischen Ordnungsdenkens und konservativen Kulturbewußtseins mißliebigen Börsenverein des Deutschen Buchhandels.« In Sachen Radikalität gibt’s also Präzedenzfälle.

Wäre jetzt nicht ein logischer Zeitpunkt, all die noch recht disparaten Erkenntnisse und das Unbehagen über die Arbeitsbedingungen, die Wut, auch die Resignation im großen Rahmen zu diskutieren? Die schwierige Übersetzungsarbeit zu leisten, den Unmut in einen konkreten Forderungskatalog zu überführen? Dafür müsste der nächste Schriftstellerkongress auch ein Schriftstellerinnenkongress sein, international und vielsprachig: eine Art General Assembly der Schreibenden. Und bestenfalls geht es einem danach nicht wie Asja Bakić, einer Autorin sensationeller Horrorstorys. Auf Twitter schrieb sie einmal, dass sie nach Treffen mit anderen Schriftstellerinnen immer deprimiert nach Hause komme – nicht weil die Gesellschaft schlecht gewesen sei, sondern weil alle die gleichen Horrorgeschichten über ihre Arbeitsbedingungen erzählten.

Co-Autorin dieses Artikels war die Schriftstellerin, Übersetzerin und Biologin Andrea Grill.

0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop