Aufheben

von David Mayer

Editorial TAGEBUCH 5/2021

Etwas konservieren, ein Problem lösen, zu guter Letzt, etwas in die Höhe hieven: Die wundervolle Dreifachbedeutung des Wortes »aufheben« ist derart unübersetzbar, dass in anderen Sprachen linke Zeitschriften mitunter dieses eine Wort als Titel tragen. Schon Marx führte diesen Verbdiamanten häufig ins Treffen, wenn es um dialektisches Denken ging: als Modus, um mit dynamischen Widersprüchen umzugehen. 

Gegenwärtig kann dieser Modus auch dabei helfen, die verfahrene wie deprimierende Auseinandersetzung um die drohende Schließung des MAN-Werks in Steyr zu begreifen. Über die widersprüchlichen Konstellationen dieses Konflikts haben wir zuletzt in zwei Beiträgen berichtet: kalte Kapitallogiken der Standortpolitik; die katastrophalen Folgen für die Beschäftigten und die Bewohnerinnen von Steyr; sowie die Widersprüche zwischen dem Wert von Produktion an sich und der ökologischen Notwendigkeit, zu überdenken, was überhaupt produziert wird. Augenscheinlich wurde zuletzt: Während die politische Dimension des Konflikts weitgehend außer Streit steht, mag es nicht so recht gelingen, ihn im tieferen Sinne zu politisieren. Die Forderung der Sozialdemokratie nach einer Staatsbeteiligung hätte kraftloser kaum verkündet werden können. Die Gewerkschaften schaffen es wiederum nicht, die strategisch entscheidende Verbindung von kritischer Expertise zu ökologisch-sozialer Konversion und betrieblichem Konflikt herzustellen. Die beste Nachricht der letzten Wochen: Die Belegschaft hat dem Übernahmewunsch des regierungswindigen Investors Siegrid Wolf trotz eifrigen Zuredens aus Konzernzentrale und bürgerlichen Medien eine Abfuhr erteilt. Sie erkannte die kaum camouflierte Erpressung hinter diesem »Angebot« und handelte, wie eine Belegschaft in einer solchen Situation handeln sollte: im Kollektiv. Das wäre ein Potenzial, ein Ausgangspunkt für ein Aufheben – und zwar auch der ökologischen Widersprüche.

Apropos ökologische Widersprüche – um die sich anbahnende Klimakatastrophe geht es im Beitrag von Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll. Sie diagnostizieren in diesem Zusammenhang das wohl schwierigste Dilemma unserer Zeit: Eine für alle acht Milliarden Menschen gerechte Antwort lässt zusehends unvermeidlich erscheinen, was in der Debatte als Öko-Leviathan bezeichnet wird, also eine Art globale ökologische Erziehungsdiktatur. Zugleich, selbst wenn diese milde ausfiele, die damit einhergehenden Einschränkungen von Freiheits- und Grundrechten scheinen den Autoren inakzeptabel. Auch wenn sie keine ausformulierte Lösung für diesen Widerspruch anbieten, deuten sie eine Richtung des Aufhebens an – sie liegt in einer anderen, auf der radikalen Ausweitung des Demokratischen ruhenden Form des Politischen.

In unserer Titelgeschichte analysieren Alexander Harder und Benjamin Opratko jene Technologien, die man vor nicht einmal zwanzig Jahren noch als Chance für emanzipatorische und demokratisierende Praktiken erachtet hat, nun aber deren Erosion verstärken, nämlich Social Media und Messenger-Apps. Ihr gedankliches Aufheben, das auf eine lange Denktradition im kritischen Umgang mit neuen Medien zurückgreifen kann: Das Problem ist kein technologisches, sondern ein politisches. 

Raphaela Edelbauer wirft indes einen Blick auf das in Kunst- und Kulturdebatten unterschätzte Genre der Videospiele und greift dabei auf den Literaturtheoretiker Edward Said, Schöpfer des Begriffs Orientalismus, zurück. Sie zeigt, dass sich in den Erzähl- und Bildwelten vieler Spiele alte Stereotype und Projektionen auf »den Orient« finden. Edelbauer fordert nicht nur eine kritische Sensibilisierung, die solche Projektionen aus ethischem Bewusstsein unterlässt. Denn immerhin handelt es sich bei Videospielen um Pop – wildes Mischen, unsauberes Übertragen, spielerisches Klischieren gehören dazu. Sie verweist vielmehr auf Gegenreaktionen (arabischer) Spieleentwickler. Auch hier geht es darum, wie eine kapitalintensive Industrie global organisiert ist, wer von wo aus gegenüber wem was sagen und damit Bilder bestimmen kann. In diesem Sinne wünschen wir uns ein Videospiel aus einem arabischen Indie-Entwicklerstudio, in dem ein verkitschtes Hallstatt als Kulisse dient. Auch eine Form des Aufhebens.

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