Die US-amerikanische Journalistin und Krisenberichterstatterin Gretchen Peters hatte im Laufe ihrer Karriere Gelegenheit, Dutzende afghanische Männer zu interviewen, die sich den Taliban angeschlossen hatten. Die meisten von ihnen, so Peters, waren »basically Incels« – Incels, kurz für involuntary celibates, sind Männer, die gerne Sex mit Frauen hätten, ihn nicht kriegen und der Meinung sind, dass dieser Sex ihnen eigentlich zustünde. Der Hinweis, dass es sich bei vielen der selbsternannten Gotteskrieger um sexuell frustrierte Jungmänner handelt, erklärt für sich genommen nicht viel. Er erklärt nicht, warum und wie es den Taliban gelungen ist, 20 Jahre nach dem Einmarsch der USA in Afghanistan Kabul einzunehmen und ein Emirat unter der Herrschaft eines »Befehlshabers der Gläubigen« einzurichten. Er erklärt nicht, was und wer die Bedingungen dafür geschaffen hat, dass die Taliban nun ihr Mordprogramm umsetzen können gegen Frauen, Oppositionelle, religiöse und ethnische Minderheiten, gegen alles, was ihnen als unrein und verdorben gilt. Der Hinweis erhellt aber doch eines, nämlich dass die Gewalt, die in Afghanistan entfesselt wird und vielen hierzulande als fremd und archaisch gilt, neben anderem auch eines ist: moderne Männergewalt, die zwar nicht universell sein mag, aber doch transkulturell.

Als Linker, der auf die 40 zugeht, wurde mein politisches Bewusstsein im Widerstand gegen den »Krieg gegen den Terror« geprägt. Die globalisierungskritische Bewegung, der ich mich zur Jahrtausendwende als Schüler angeschlossen hatte, richtete sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 neu aus: gegen Krieg und Besatzung in Afghanistan und im Irak, gegen die Weltordnungspolitik der USA, die nur noch mehr Leid und Ungerechtigkeit in die Welt bringen würde. Nicht, dass ich damals viel von den Details der Geopolitik, den Realitäten am Hindukusch oder zwischen Euphrat und Tigris verstanden hätte. Aber jenen, denen ich damals Glauben schenkte – den Journalistinnen, Aktivisten, Politikerinnen der globalen Antikriegsbewegung –, hat die Geschichte spätestens mit dem Fall von Kabul auf eine Weise recht gegeben, die sich keine von ihnen gewünscht hätte. Die Kriege im Irak und in Afghanistan, die von George W. Bush begonnen wurden, die Foltergefängnisse und Drohnenangriffe, die von seinem Nachfolger weitergeführt wurden, waren und bleiben eine welthistorische Katastrophe und ein ungesühntes Verbrechen. Die Folgen erleiden jene Menschen, die im hiesigen, verkommenen politischen Diskurs uns nicht als Menschen begegnen, sondern zur »Flüchtlingswelle« entmenschlicht werden. Zu hoffen bleibt in dieser Katastrophe nicht viel mehr, als dass sich 2015 doch wiederhole: als praktische Bewegung jener, die sich auf den Weg machen und in die borderlands Europas Schneisen der Hoffnung schlagen; und als praktische Tat jener, die im Erkennen der Menschlichkeit dieser Menschen ihre eigene Humanität entdecken, Hilfe leisten und die eigenen Herrschenden zwingen, von der Gewalt abzulassen.

Zu den schon jetzt ikonischen Bildern des Falls von Kabul gehört jenes Foto, das den Mitarbeiter eines Schönheitssalons dabei zeigt, wie er die Schaufenster übermalt, auf denen Frauen abgebildet sind. Als Illustration der Thesen von Klaus Theweleit ist es fast schon zu plakativ: Eliminierung des Weiblichen, symbolisch wie materiell. Diesen Zusammenhang von Männergewalt und Sexualität hat in seinen historischen, politischen wie tiefenpsychologischen Dimensionen kaum jemand so durchdrungen wie ebenjener Klaus Theweleit, dem dieser Tage in Frankfurt am Main der Adorno-Preis verliehen wird. Sein Gespräch mit David Mayer kann der geneigten Leserin, dem geneigten Leser als Scharnier dieser TAGEBUCH-Ausgabe dienen. Es öffnet die Tür in die Männersphären der Incels, die Raphaela Edelbauer kartografiert, ebenso wie in die Welt der ungehobenen Möglichkeiten selbstbestimmter Sexualität, von denen Lisa Kreutzer berichtet.

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