Fantastische Verdrängungsarbeit

von Florian Baranyi

308 wörter
~2 minuten
Fantastische Verdrängungsarbeit
Raphaela Edelbauer
DAS FLÜSSIGE LAND
Klett Cotta, 2019, 350 Seiten
EUR 22,70 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 30,90 (CH)

Bereits 2017 ist Raphaela Edelbauer, 1990 geborene Absolventin des Studiums der Sprachkunst an der Wiener Universität für Angewandte Kunst, mit einem Band namens Entdecker hervorgetreten. Dabei handelte es sich um eine experimentelle Poetik zwischen Bild und Text. 2018 gewann Edelbauer den Publikumspreis beim Bachmannwettlesen in Klagenfurt mit dem Text Das Loch, der die Keimzelle ihres nunmehr erschienenen Debütromans Das flüssige Land bildete. Hierin erzählt die Autorin von der verdrängten NS-Vergangenheit in der österreichischen Provinz. Die Physikerin Ruth Schwarz, die sich in ihrem scheiternden Habilitationsprojekt mit der Natur der Zeit auseinandersetzt, beginnt nach dem Unfalltod ihrer Eltern in deren Herkunftsort Groß-Einland
die Familiengeschichte aufzuarbeiten. Dieses Dorf, das metonymisch für ganz Österreich steht, ist über einer Bergwerksruine gebaut und droht in diesem Loch zu versinken. Ruth wird von der quasi-absolutistischen Herrscherin des Ortes verpflichtet, ein Füllmaterial zu entwickeln, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Desto heimischer sich Ruth in Groß-Einland fühlt, desto sicherer wird sie, dass die Einwohner ein grausames Naziverbrechen verdrängen, welches auch ihre Vorfahren betrifft. In den letzten Kriegstagen verschwanden in Groß-Einland nämlich hunderte Zwangsarbeiter. Doch Ruth ist eine hochgradig unzuverlässige Erzählerin, der nur bedingt zu trauen ist. Während Edelbauer Ruths Konflikt schildert, macht sie sich gleichzeitig daran, gesellschaftliche und individuelle Verdrängungsprozesse erzählbar zu machen. Dabei spart sie nicht mit Bezügen zur österreichischen Literaturgeschichte, wenn die Krisenbewältigungsversuche der Obrigkeit beispielsweise als »Parallelaktion« benannt werden, eine Bezeichnung, die nach Musils Der Mann ohne Eigenschaften Ulrich im Mund führt. Mit Konstellationen der Anti-Heimatliteratur von Wolfgruber bis Winkler spielend, schafft Edelbauer eine zeitgemäße Reaktivierung des Genres und macht Das flüssige Land zudem zum Glanzstück philosophisch grundierter Fantastik, das die Tradition von Alfred Kubins Auf der anderen Seite lebendig hält.

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