Gaia und ihre Cyborg-Nachkommen
von Johannes Kaminski
Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz
EUR 18,50 (AT), EUR 18,00 (DE), CHF 25,90 (CH)
Obwohl James Lovelock zu den hochbetagten Forscherpersönlichkeiten unserer Zeit gehört, hat sich seine Weltsicht keineswegs überlebt. Ganz im Gegenteil, im Kontext des Anthropozäns erscheint seine Gaia-Hypothese von 1979 als prägnante Metapher, um die Fragilität des ökologischen Gleichgewichts anzumahnen. Wer das Erdsystem als Gaia begreift, muss anerkennen, dass unsere Lebensbedingungen nicht gottgegeben, sondern erheblichen Schwankungen ausgesetzt sind, insbesondere durch die Erdöl-betriebene Weltgesellschaft (siehe Lovelocks Gaias Rache von 2007). Trotz des Erfolgs der wohlklingenden Gaia-Idee innerhalb der Öko-Bewegung verbietet sich Lovelock allerdings ein »Zurück zur Natur«, wie er in seiner jüngsten Veröffentlichung neuerlich klarmacht. Der aktuelle Stand der Technik sei lediglich ein Sprungbrett, um die Menschheit ins Zeitalter der Hyperintelligenz zu befördern. In diesem Sinne wird eine Epoche angekündigt, in der die Maschinenintelligenz das Ruder übernehmen wird: das »Novozän«. Damit trägt Lovelock seinen Teil zum grassierenden Epochen-Begriffsbildungs-Trend bei, der kaum Scheu vor Tautologien hegt. Nachdem auf das Holozän (»das ganz Neue«, abgeleitet von hólos und kainós) das Anthropozän folgte (»das menschliche Neue«, ánthropos und kainós), wird es nun allerhöchste Zeit für das Novozän, »das neue Neue« (novum und kainós). Hinter diesen großspurigen Titel fällt das kleinformatige Büchlein jedoch zurück.
Dieses Missverhältnis zeigt sich durchgängig in der Präsentation von Lovelocks üppiger Ideenwelt. Der Text beginnt bei der Entstehung der Welt, zeichnet die Genese biologischen Lebens nach und legt nur einen kurzen Stopp bei Thomas Newcomens Dampfmaschine ein, um danach für eine radikale Abkehr von fossilen Brennstoffen und den Einsatz von Atomenergie und Geoengineering zu plädieren. Die selbstregulierende Kraft des Planeten hätte nämlich die Technosphäre zum eigenen Nutzen erschaffen. Hier erweist sich Lovelock als bekennender Posthumanist, der klar in Aussicht stellt: Die Cyborgs werden früher oder später das Zepter an sich reißen – um aus der organischen Gaia eine »IT-Gaia« zu formen. Die Leserin wirft es bei solchen Passagen zwar vom Hocker, aber diese haarsträubenden Szenarien werden nicht näher ausformuliert – stattdessen blubbert der Assoziationsstrom ungetrübt weiter, um im Anschluss die Fortschrittsmüdigkeit der grünen Bewegung anzuprangern und, zwei Seiten weiter, die Intuition gegenüber logischem Denken zu preisen. Bis wir auf einmal in Lovelocks Arbeitszimmer stehen und erfahren: Von hier aus könne er ungehindert auf die englische Küstenlandschaft hinausblicken. Aha, also ein Sinnbild für seine Unabhängigkeit als Forscher!
Doch wer schreibt hier? Lovelock? Oder nicht viel eher sein Ghostwriter, Bryan Appleyard, der seine Äpfel unter dem klingenden Namen des genialischen Doyens auf den Markt bringt? Im Lauf des Buchs wird klar, dass der im Vorwort angesprochene zwanglose E-Mail-Briefwechsel die Textbasis darstellte, der sich der Ghostwriter nach Verlagsvorgaben bedienen sollte. Was als wunderbar anregendes und freudig-spekulatives Kamingespräch begann, wurde dadurch zum programmatisch-verblendeten Manifest im Sinne der Also Boughts von Amazon: Wenn Ihnen Yuval Hararis Homo Deus gefallen hat, könnte Ihnen auch Novozän gefallen. Willkommen im Amazonozän.
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