Kompass der Dekolonialisierung

von Jonathan Scalet

383 wörter
~2 minuten
Kompass der Dekolonialisierung
Jens Kastner
Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika
Einführung und Kritik
Unrast, 2021, 208 Seiten
EUR 16,50 (AT), EUR 16,00 (DE), CHF 22,90 (CH)

Während in Lateinamerika die Forderung nach Überwindung kolonial geprägter Gesellschafts- und Wissensstrukturen seit der formalen Unabhängigkeit der meisten Staaten vor rund 200 Jahren in wechselnden Konjunkturen wiederkehrt, dämmert hierzulande selbst manchen Lateinamerika-Interessierten erst langsam, dass dieses Unterfangen auch etwas mit »uns« zu tun hat. Spätestens mit der Rezeption der Diskussionen um das buen vivir, also das gute Leben, oder feministischen Protestbewegungen wie Ni una menos ist in den letzten Jahren jedoch auch in Europa »ein regelrechter Boom dekolonialistischer Ansätze zu verzeichnen«. Zugleich findet eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Ende der 1990er Jahre aufgekommenen Thesen der »dekolonialistischen Theorie« erst in Ansätzen statt – auch weil das Gros der Debatte nur in spanischer Sprache zugänglich ist. Für dieses Theorievakuum schafft der Soziologe und Kulturwissenschafter Jens Kastner mit seiner kompakten und gut lesbaren Einführung eine wichtige Abhilfe.

Anhand von sechs inhaltlichen Fragestellungen entwirft Kastner ein »Panorama dessen […], was dekolonialistische Theorie derzeit auszeichnet«. Deren Anker bildet die These eines ab 1492 etablierten globalen Machtmusters, das der Soziologe Aníbal Quijano mit seinem Konzept der »Kolonialität der Macht« auf den theoretischen Begriff gebracht hat. Demnach verlaufen gesellschaftliche Ungleichheiten bis heute entlang einer rassistischen Klassifizierung der Weltbevölkerung, die nicht nur die globale kapitalistische Arbeitsteilung strukturiere, sondern sich auch in Wahrnehmungsweisen und Wissenssysteme einschreibe. Ein zentraler politischer Einsatz dekolonialer Ansätze bestehe daher in einem »epistemischen Bruch« mit der als eurozentrisch charakterisierten westlichen Moderne und der Hinwendung zu bislang marginalisierten Wissensformen und Gemeinschaftskonzepten. Ein eigenes Kapitel widmet Kastner jenen feministischen Denkerinnen, die auf die androzentrischen Leerstellen in der dekolonialistischen Theoriebildung selbst hingewiesen haben.

Kastner verortet die behandelten Konzepte und Strategien umsichtig innerhalb wissenschaftlicher wie politischer Debatten und setzt sich kritisch mit problematischen Aspekten auseinander. Dies scheint umso wichtiger, als manche dekolonialistische Denker nicht vor polemischen Abgrenzungsgesten gefeit sind. So verweist Kastner auf antiimperialistische Spuren, die gelegentlich in eine pauschalisierende Umkehrung eurozentrierter Perspektiven münden (bis hin zum Aufgreifen antisemitischer Stereotype).

Der kompakte Umfang von Kastners Panorama führt zwangsläufig zu einigen Verkürzungen. Für die theoretische Tiefe und Komplexität mancher dekolonialer Schlüsselbegriffe im lateinamerikanischen Kontext bleibt nicht immer ausreichend Platz. Auch die zentralen ideengeschichtlichen Vorläufer bleiben zu undeutlich.

Dennoch, mit seiner vielschichtig abwägenden Einordnung bietet Kastner eine äußerst hilfreiche Orientierung im gegenwärtigen Dekolonialisierungsboom.

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