Alttestamentliche Herrschaftskritik

von Andreas Pavlic

490 wörter
~2 minuten
Alttestamentliche Herrschaftskritik
Rüdiger Haude
Als Adam grub und Eva spann
Matthes & Seitz, 2023, 139 Seiten
EUR 15,90 (AT), EUR 15,00 (DE), CHF 19,90 (CH)

Herrschaftskritik in der, ja durch die Heilige Schrift? Dieser Frage geht der Soziologe Rüdiger Haude im schmalen Band Als Adam grub und Eva spann nach. Mithilfe kritischer Bibelexegese sowie anthropologischer und archäologischer Erkenntnisse erkundet er, »wie die herrschaftskritische Seite (…) in unserer eigenen religiösen Tradition, in ihrer Heiligen Schrift und der darin geschilderten Geschichte angelegt ist«. Er folgt damit der Maxime des berühmten, im Titel zitierten und auf John Ball zurückgehenden Spruchs aus dem 14. Jahrhundert, mit dem Legitimität von (Grund-)Besitz und Herrschaft infrage gestellt wurde: »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?«

Ein wesentlicher Ideengeber ist der verstorbene Ethnologe und Soziologe Christian Sigrist, dem auch der erste der vier Aufsätze in diesem Band gewidmet ist. Sigrist hatte in den 1960er-Jahren in einer sozialanthropologischen Studie über »segmentäre Gesellschaften« in Afrika (also Gesellschaften, die auf egalitären Verwandtschaftssystemen fußen und nicht auf herrschaftlicher Gewalt) die Bezeichnung »regulierte Anarchie« eingeführt. Diese Studie fand Eingang in die Religionswissenschaft und wurde auf das frühe Israel übertragen. Moses und »seine« Schar entlaufener Fronarbeiter, die zwölf Stämme Israels, wurden in diesem Sinne als segmentäre Gesellschaft begriffen, die nach dem Exodus in Kanaan ein Reich ohne Herrschaft errichteten. Diese 200 Jahre dauernde »Richterzeit« wurde dabei als eine bewusste Entscheidung der frühen Israeliten und Israelitinnen verstanden, nach dem Motto »Kein Pharao, kein Staat!« zu leben. Der Pharao wurde Haude zufolge auf doppelter Ebene negiert: »Als Vertragspartner der Gottheit wird er durch das Volk ersetzt; als Herrschaftsinstanz durch Gott.« Haude illustriert ein weiteres Mal, dass Vorstellungen von Gesellschaft, die sich bewusst einer Staatsbildung widersetzen, längst in der anthropologischen Forschung angekommen sind (mit David Graeber sind diese in jüngerer Vergangenheit einem breiteren Publikum bekannt geworden).

Der zweite Beitrag »Alphabet und Demokratie« wendet sich gegen die weitverbreitete Meinung, dass im antiken Griechenland mit dem Alphabet auch die Demokratie eingeführt worden sei. Haude spürt demokratischen Gesellschaftsformen in anderen Schriftkulturen nach, unter anderem im richterzeitlichen Israel. Eine seiner Schlussfolgerungen lautet: »Der Normalzustand politischen menschlichen Zusammenlebens ist demokratisch, und die alten Griechen liefern nicht mehr und nicht weniger als ein Kapitel in der langen Geschichte des Widerstreits zwischen Freiheit und Herrschaft.«

In den letzten beiden Aufsätzen widmet sich Haude einer säkularen Auslegung zweier alttestamentlicher Texte: Den Turmbau zu Babel liest er als Herrschaftschiffre und das Buch Jona (jener, der, um Gott zu besänftigen und das Schiff zu retten, ins Meer sprang und im Walbauch landete) als Metapher für kollektives Handeln in einer Gefahrensituation. Haude zeigt in diesem schmalen Band, wie fruchtbar und inspirierend es sein kann, Mythen, Legenden und heilige Schriften auf eine neue Weise zu behandeln, sie historisch und kritisch zu lesen. Er zeigt auch, dass herrschaftsfreie Gesellschaften nicht utopisch, nicht »in der Mythologie, sondern in der Geschichte« zu verorten sind – und waren sie in der Geschichte, so können sie auch in Gegenwart und Zukunft sein.

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