Navigation an der Nulllinie

von Norma Schneider

570 wörter
~3 minuten
Navigation an der Nulllinie
Artur Weigandt
Die Verräter
Hanser Berlin, 2023, 160 Seiten
EUR 22,70 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 30,50 (CH)

Uspenka – so hießen in der Sowjetunion gleich mehrere Orte. Heute befinden sie sich in ganz verschiedenen Ländern. Ein Uspenka liegt in der Ukraine, im Donbass, und wird zurzeit von russischen Soldaten besetzt. Ein anderes liegt in Kasachstan – ein Dorf mit staubigen Straßen und wenigen Tausend Einwohnern, im Zen­trum steht noch immer ein sowjetisches Ehrenmal. Anders als im ukrainischen Uspenka ist es dort heute friedlich, doch früher bebte oft die Erde von den zahlreichen sowjetischen Atombombentests, die zu Hunderten in der kasachischen Steppe durchgeführt wurden, ohne dass man Rücksicht auf die Gesundheit der Bevölkerung genommen hätte.

In diesem zweiten Uspenka wurde 1994 der Journalist und Autor Artur Weigandt geboren. Er kam als kleines Kind nach Deutschland, wo man ihn, der deutsche, ukrainische und belarussische Wurzeln hat, stets als »den Russen« bezeichnete, obwohl er bis auf ein paar entfernte Verwandte keine Verbindung zu Russland hat. Wie Weigandt geht es vielen aus der Generation der »Mitgebrachten«, die mit ihren Eltern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Westeuropa kamen. Sie haben die »alte«, sowjetische Welt nicht mehr selbst erlebt und bleiben dennoch mit ihr verbunden – vor allem in der Wahrnehmung der anderen.

In Die Verräter fängt Weigandt die Komplexität dieser »PostOst«-Identität – so die Selbstbezeichnung – in klugen, persönlichen Texten ein. Die knappen und pointierten Miniaturen beschreiben atmosphärisch Erinnerungen an die Kindheit (»Meine Familie riecht nach Sprotten, Pelmeni und Räucherfisch«), reflektieren Russlands Krieg gegen die Ukraine und geben Momentaufnahmen aus den siebziger und achtziger Jahren wieder, wie Weigandts Eltern sie erlebt haben. Dabei geht es nicht zuletzt darum, wie in der Sowjetunion kulturelle und individuelle Unterschiede verwischt und unterdrückt wurden. Uspenka ist für Weigandt auch »ein Dorf, das all das darstellt, was die Sowjetunion für mich ist: Elend, Verrat an der eigenen Identität und erzwungene Loyalität zum System«.

Diese erzwungene sowjetische Einheitsidentität, in der sich die russische Kultur immer als anderen Kulturen überlegen verstand, ist auch einer der Gründe dafür, dass Weigandt heute in Deutschland pauschal als »Russe« wahrgenommen wird – und von einem Teil seiner Verwandtschaft als »Verräter«, weil er nicht zu Russland hält, sondern auf der Seite der Ukraine steht. »Der 24. Februar 2022 ist wie eine Nulllinie«, schreibt Weigandt. »Sie trennt Freund und Feind.« Diese Linie verläuft manchmal mitten durch eine Familie. Weigandt erzählt, wie er versucht, seinen Cousin dazu zu bringen, Russland zu verlassen, um sich vor der Einberufung zu schützen. Doch der Cousin glaubt ihm nicht, und statt die russischen Kriegsverbrechen zu verurteilen oder sich auch nur davor zu fürchten, an die Front geschickt zu werden, fragt er besorgt nach, ob sie nicht furchtbar frieren und hungern in Deutschland, das hat er in den Nachrichten gehört. Selbst Freunde der Familie, die seit vielen Jahren in Deutschland leben und denen es leichtfiele, sich bei zuverlässigen Quellen zu informieren, sprechen die russischen Propagandaphrasen nach, sehen Russland als ihre Heimat, obwohl sie eigentlich nichts mit dem Land zu tun haben. Weigandt bewegt sich in seinen Texten geschickt durch diese Widersprüche – und beschreibt gleichzeitig seine eigene Fassungslosigkeit.

Die Verräter ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sich aus der Schilderung persönlicher Erfahrungen die großen Zusammenhänge besser begreifen lassen. Zwischen Prosa und Essay, journalistischem, autobiografischem und literarischem Schreiben lässt Weigandt eine Perspektive lebendig werden, von der man viel lernen kann.

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