Samuel Stuhlpfarrer | Lass uns mit den jüngsten Ereignissen beginnen. Die Unterhaus-Wahlen in Britannien haben mit einem desaströsen Ergebnis für Labour geendet. Erleben wir gerade einen Moment linker Melancholie, über die du zuletzt ein Buch geschrieben hast?
Enzo Traverso | Es ist wohl zu früh für eine kritische Einschätzung dieser Wahl. Aber ich denke, dass dieses katastrophale Ergebnis nicht das Produkt der linken Orientierung von Labour unter Jeremy Corbyns Führung war. Viel eher scheint mir die veränderte Position Labours in der Brexit-Frage von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Die Partei ist faktisch gespalten. Auf der einen Seite gibt es da eine junge, urbane Basis, die überwiegend für den Verbleib in der EU gewesen ist. Und auf der anderen Seite war die Arbeiterklasse, das Fußvolk der Partei, wenn man so will, aus ganz unterschiedlichen Erwägungen mehrheitlich für den Brexit. Corbyn ist es nicht gelungen, diese Spaltung zu überwinden. Natürlich spielten auch noch andere Momente mit, etwa die bösartige Kampagne gegen den angeblichen Antisemiten Jeremy Corbyn. Aber ich glaube nicht, dass das entscheidend gewesen ist.
SS | Die sozial-liberalen Parteien in Europa werden dieses Ergebnis als Aufforderung zur Rückbesinnung auf den Dritten Weg von Tony Blair lesen.
ET | Das wäre natürlich die schlechteste aller möglichen Analysen.
SS | Zurück zu meiner Frage nach der linken Melancholie. Gilt es jetzt zu trauern, um daraus neue Kraft zu schöpfen?
ET | Die Idee der linken Melancholie kann natürlich nicht auf die Enttäuschung über ein Wahlergebnis reduziert werden. Es geht dabei um etwas, das mit einer umfassenderen historischen Perspektive in Verbindung steht.
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