Reise ohne Ende
von Jana Volkmann
EUR 20,60 (AT), EUR 20,00 (DE), CHF 28,90 (CH)
Der französische Anthropologe Marc Augé spricht von Transitorten wie Flughäfen oder Bahnhöfen als »Nicht-Orten«. Drei wesentliche Mängel weisen sie auf: Identität, Relation und Geschichte entstehen anderswo. Ivna Žic’ Debütroman setzt an einem solchen Ort ein. Die Ich-Erzählerin befindet sich im Nachtzug nach Zagreb, über ihr schnarcht jemand, sie selbst findet keine Ruhe:
»… langsam ist es egal, wie der Körper sich verbiegt, fast zwölf Stunden ist er schon unterwegs, wieder einmal«.
Die Nachkommende war für den Österreichischen und den Schweizer Buchpreis nominiert. Dass der Roman so viel Aufmerksamkeit bekommen hat, zeigt, dass die 1986 in Zagreb geborene, in Wien und Zürich lebende Autorin einen Nerv trifft. Žic erzählt nicht zuletzt, vielleicht sogar zuerst, eine Geschichte über ein bewegliches, stellenweise durchlässiges, oft aber auch noch immer hermetisches Europa. Im Roman taucht immer wieder das Reiterdenkmal am Zagreber Ban-Jelačić-Platz auf. Der Säbel des berittenen Ban zeigte bei der Errichtung im 19. Jahrhundert nach Budapest. Im sozialistischen Jugoslawien wurde es abgerissen, heute steht es wieder. Der Säbel zeigt allerdings nun nach Süden.
Die transeuropäische Diaspora-Erfahrung macht deutlich, wie unbrauchbar das Konstrukt Nationalliteratur schon längst geworden ist. Sie erstreckt sich im Roman über drei Generationen. Die Ich-Erzählerin legt auf der Spurensuche nach den kroatischen Großeltern ihre Familienbiografie frei. »… die Eltern sterben nicht, lautet eine Regel der Lebenssehnsucht, doch das Leben ist ein Faustschlag«, stellt sie fest. Von der Beerdigung des Großvaters erinnert sie vor allem das Weinen ihrer Mutter. Der Großvater hinterlässt ein Gemälde einer Frau, die niemand kennt: Was von den vorangehenden Generationen bleibt, wenn sie gehen, und was unwiederbringlich verloren ist, liegt oft nah beieinander. Auch ihr in Paris lebender Geliebter ist Maler. Zwischen Frankreich, Kroatien und der Schweiz fließen Erinnerungen und gegenwärtige Beobachtungen ineinander.
Die Beschleunigung, also das Erfahren einer durch die Überwindung von Distanzen kleiner werdenden Welt, gilt als zentrales Motiv der Moderne. Daran knüpft Žic auch stilistisch und formell an; ihr assoziatives, monologisches Schreiben spiegelt die Wahrnehmung einer Figur, die (man stelle sich den Geisteszustand nach einer schlaflosen Nachtfahrt vor) gleichzeitig hyperwach und von den endlos vielen Eindrücken erschöpft ist. Diese Erfahrung bildet sie nicht bloß ab, sie macht sie erlebbar. In rauschhaften Sätzen folgt man der Nachkommenden. Es ist ein eindringliches, eigenständiges Buch, das die literarische Auseinandersetzung mit Europa – und insbesondere mit europäischen Biografien und Identitäten nach den Jugoslawienkriegen – entscheidend anspornt.
Dass Ivna Žic’ Hauptfigur zwar nach-, aber nicht ohne Weiteres ankommen kann, zeigt sich besonders stark gen Ende des Romans, als sie in Zürich aus dem Nachtzug steigt: »… guten Morgen liebe Eidgenossen, ihr eingeschlafenen Körper ohne Kriege« – so begrüßt sie die allzu ruhig daliegende Stadt. Vom Zug steigt sie gleich in die Tram. Als sie die elterliche Wohnung erreicht, findet sie den Schlüssel nicht. Sie zieht also weiter, an den See. Wie die kroatische Großmutter, die den Weg über die Klippen nicht mehr schafft und sich mit dem Meer im Plastikeimer begnügt, streckt sie die Füße ins Wasser. Es ist das richtige Element für eine, die es nie anders gelernt hat, als sich mit den Umständen – familiären, politischen, amourösen, sozialen – mittreiben zu lassen. Die einzige Gewissheit: Es wird wieder ein Zug kommen. Wohin er fährt, ist fast egal.
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