Mal klang es wie eine ätherische Geige, dann wieder wie ein jaulendes Tier, dem jemand auf die Pfoten tritt. Die Geräusche, die im Oktober 1920 aus einem der Labors des Physikalisch-Technischen Instituts der Sankt Petersburger Universität kamen, schienen nicht ganz von dieser Welt zu sein. Pathetisch und grotesk zugleich, standen sie nicht am Ende, sondern zu Beginn einer bahnbrechenden Entdeckung. Der Physiker Lev Sergeyevich Termen, der am neu gegründeten Petersburger Institut eben erst eine Forschungsstelle angetreten hatte, war ursprünglich mit anderem als Klangerzeugung beschäftigt. Durch Zufall entdeckte er, dass Frequenz und Tonhöhe einer Elektronenröhre abhängig vom Abstand des menschlichen Körpers sind. Darauf aufmerksam war er geworden, als er anstelle der Messanzeige einen Kopfhörer an einen Apparat anschloss, der ihm Aufschluss über das Verhalten von Gasen in Relation zu Druck und Temperatur geben hätte sollen. Damit, dass auf diese Weise Veränderungen in einem elektromagnetischen Feld hörbar gemacht werden können, hatte er nicht gerechnet.
Rote Drähte quer durchs Land
Eigentlich hatte der 1896 im Sankt Petersburg des russischen Zarenreichs geborene Lev Sergeyevich Termen gar keine phonische Entdeckung machen wollen. Die Forschungsarbeiten über akustische Bewegungsdetektoren waren kriegswichtig, in Auftrag gegeben hatte sie das russische Militär. Termen, der durch Vermittlung des Festkörper-Physikers Abram Fedorovich Ioffe noch zu Schulzeiten in Kontakt mit späteren Fachkollegen trat und auf dessen Empfehlung hin die renommierte Fakultät für Ingenieurwesen bereits ab dem zweiten Studienjahr besuchen konnte, hatte bezüglich des Auftraggebers keine Berührungsängste. Die Militäringenieursschule hatte er – nebst einem Diplom in Rundfunktechnik – selbst mit einem militärischen Dienstgrad verlassen. Die dazugehörige Ausbildung bewahrte ihn nicht nur vor den Schützengräben des Ersten Weltkriegs; sie verhalf ihm 1916 auch zu einem angesehenen Posten beim dazumal mächtigsten Sender Russlands, 1918 zu jenem des stellvertretenden Leiters des neuen radiotechnischen Labors in Moskau. Zum Sender, in dessen Schatten seine Karriere begann, hatte Termen zeitlebens eine besondere Beziehung. Als die Weiße Armee kurz davor war, den Funkturm der Rotarmisten im Oktober 1919 zu erobern, kehrte er während eines kurzen Intermezzos nach Detskoje Selo zurück. Termen evakuierte den Bahnhof des Petersburger Vororts und veranlasste wenig später die Sprengung des 120 Meter hohen Antennenmasts.
Das, was der Öffentlichkeit im Jahr 1921 nach über einem Jahr gut gediehener Forschung als jüngste Erfindung aus Petersburg präsentiert wurde, entpuppte sich entgegen aller Erwartungen nicht als Kriegsgerät oder Wunderwaffe. Es war keine panakustische Vorrichtung und auch kein elektronischer Agent. Vielmehr wirkte das Ding, das anlässlich des Allrussischen Elektrotechnischen Kongresses enthüllt wurde, in seiner Aufmachung höchst bescheiden. Aus der Entfernung sieht es aus wie ein zu groß geratener Buchstabe mit Metallaufsatz, in unmittelbarer Nähe wie ein plumper Holzkasten mit asymmetrischem Grundriss. Daraus ragen zwei Antennen – die eine vertikal, die andere horizontal – hervor. Das Innere des Apparats übertrifft noch seine äußere Einfachheit. Im Gehäuse finden sich zwei unterschiedlich stark geladene Elektronenröhren inmitten von mehreren Oszillatorschaltungen. Töne werden durch die Differenz der dazugehörigen Ladungsmengen erzeugt und über den Umweg zweier Verstärker durch einen Lautsprecher ausgegeben. Konkret kann man sich das wie folgt vorstellen: Wenn sich die Hand des Spielers der vertikalen Antenne annähert, nimmt die Tonfrequenz zu, entfernt sie sich, tritt das Gegenteil ein; mit der linken Hand wird währenddessen die Lautstärke gesteuert. Termen durfte dies auf dem Kongress von 1921 eigenhändig demonstrieren. Der Kongress endete mit dem einhelligen Beschluss zur Elektrifizierung eines politisch noch jungen Territoriums: der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.
In der der Gründung der eigentlichen Sowjetunion vorausgegangenen Föderation, die von späteren Annexionsansprüchen noch frei war, wurde Termens Erfindung schnell Programm. Wladimir Iljitsch Lenin, der mit der Formel »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung« die Industrialisierung eines vormaligen Agrarstaates rasch vorantreiben wollte, zeigte sich vom elektronischen Klangerzeuger aus dem Petersburger Institut hellauf begeistert. Die dahinterstehende Idee fügte sich ein in eine politische Obsession, die bald das ganze Land erfasste. Mit Anbruch der Neuen Ökonomischen Politik, die der Ära des Kriegskommunismus gefolgt war, sollte ein profanes Ding an die Stelle religiöser Devotionalien treten. Lenin hatte es sich zum Ziel gesetzt, in jeden Haushalt eine Glühbirne zu bringen – genau dorthin, wo bis vor kurzem noch die Ikone hing. Als Symbol für Fortschritt durch Wissenschaft und Technologie leuchtete sie der Zukunft hell voraus. Die Erzählung vom »Ingenieur Elektron«, der ausgezogen war, um selbst die entlegensten Gegenden Russlands mit Strom zu versorgen, wurde zum Volksmythos; in einem der ersten sowjetischen Tonfilme erklingt im Off ein Theremin. Der Klang des Instruments soll die Komsomolzen bei ihrer Arbeit unterstützen. In Komsomol – Führer der Elektrifizierung verlegen sie rote Drähte quer durchs ganze Land.
Ausnahmeerscheinung
Dem Ton nach hingebungsvoll und zugleich höchst konzentriert, niemals ekstatisch und mit ruhiger Hand auf die Form bedacht – so zeigen frühe Filmaufnahmen den jungen, sowjetischen Physiker an seinem Instrument, das in der russischsprachigen Welt unter dem Namen Termenvox bekannt wurde. Beim Betrachten fragt man sich nicht nur, wie das berührungslose Spiel, das zeitweise den Charakter einer Beschwörung anzunehmen scheint, zustande kommen kann. Man fragt sich auch, woher Termens musikalisches Geschick, sein außergewöhnliches Können, eigentlich kommt. Keineswegs wirkt es so, als sei bei dessen musikalischen Darbietungen nur die instrumentelle Vernunft am Werk. Hier versteht einer von seinem Instrument viel mehr als nur den technischen Aufbau, versteht sich darauf, die auf einer aufsteigenden Notenskala weit voneinander entfernten Töne exakt zu treffen – selbst bei den von ausgebildeten Thereministinnen so gefürchteten, schnell zu spielenden Übergängen. Das Changieren zwischen Auf und Ab, die fehlerhaften Glissandi, die durch zu große Schwankungen entstehen, haben in Termens Spiel keinen Platz. Er macht Musik ohne Zittern. Wer aber war dieser Lev Sergeyevich, der dem inszenierten Grauen aus der amerikanischen Sternchenfabrik – man denke etwa an die musikalische Untermalung früher Hitchcock-Filme – mit seinem Instrument indirekt den Ton geben sollte? Und wo ist sein Platz in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts?
»THEREMINS LEBEN FAND AN BEIDEN POLITISCHEN POLEN DES 20. JAHRHUNDERTS STATT, ENTSPANN SICH ABER MEIST DAZWISCHEN, SO WIE DIE ELEKTRONENLADUNGEN IM INNEREN EINES THEREMINS.«
Jeder, der von verschwundenen Staaten und untergegangenen Gebilden schreibt, muss sich dem Verdacht ausgesetzt sehen, Gespenstergeschichte zu betreiben. Die Gefahr, dabei Phantomen nachzujagen, ist von Vornherein groß. Ähnlich verhält es sich mit dem Versuch, Lev Termens Position im Nachhinein zu bestimmen. Zeitlebens war er einer, der Grenzen auch dann überschritt, wenn diese vermint waren. Dies gilt nicht nur für solche, die den Übergang zwischen Staaten regeln. Jemand, der komplexe elektrotechnische Systeme nicht nur berechnen, sondern sie ebenso erfinden kann, ist allein aufgrund der hohen Arbeitsteiligkeit in sämtlichen Ingenieurberufen eine Seltenheit; jemand, der diesen das ästhetische Surplus eines Klangereignisses abringen kann, war immer schon eine Ausnahmeerscheinung.
Aus sicherer Entfernung
Einerseits ist da der ambitionierte Wissenschafter Lev Termen, der als kleiner Junge im Physik-Labor des Petersburger Gymnasiums erste Experimente macht und feststellt, dass er den Summton einer Tesla-Spule mithilfe von Handbewegungen manipulieren kann; dort ist aber auch der spätere Bolschewik aus einer wohlhabenden Patrizierfamilie, der zeitgleich am Petersburger Konservatorium Violoncello studiert und dessen Interesse an den Naturwissenschaften von seiner Begeisterung für Musik noch übertroffen wird – eine Faszination, die selbst dann nicht zum Erliegen kommen sollte, als kein geringerer als Lenin Termen aufgrund seiner Leistungen auf elektrotechnischem Gebiet zu umwerben beginnt.
Die in der Zwischenzeit um einige Teilrepubliken erweiterte Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gewährte Lev Termen vorerst einige Freiheiten. Sein revolutionärer Tongenerator verhalf ihm zu neuen Forschungsaufträgen und kostenlosen Bahnreisen quer durchs ganze Land. Zehn Jahre später strapazierten die Autoritäten des Kremls jedoch eine andere Dimension seiner Erfindung. Die aufkommende Elektronikindustrie machte sich denselben physikalischen Mechanismus zunutze, der dem Funktionieren der Termenvox zugrunde liegt. Ein akustischer Sensor, der Eindringlinge bereits in nächster Nähe orten konnte, sollte nicht nur die Kosten für allfällige Wachtposten dezimieren; in der eben erst gegründeten Zentralbank der Sowjetunion wurde dieser auch zur Absicherung des gesamten Volksvermögens eingesetzt. Alles andere, was auf Termens Arbeit aufbaute, schien zum belanglosen Beiwerk technokratischer Machbarkeitsbestrebungen verkommen zu sein.
Jener Wissenschafter, auf dessen Erkenntnissen neben dem Termen auch ein vom sowjetischen Geheimdienst in Auftrag gegebenes Abhörsystem basiert, befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht länger auf dem Boden der UdSSR. Im Dezember 1927 emigrierte Lev Termen in die USA. Auf seine Initiative hin wurde 1931 in New York das weltweit erste Theremin Studio etabliert, das von Ingenieuren und Komponisten gleichermaßen frequentiert wurde. Parallel dazu gründete Termen eine Firma für Sicherheitssysteme, über die er optische und akustische Bewegungsmelder verkaufte. Die Ideen der sowjetischen Avantgarde verfolgte er fortan aus sicherer Entfernung. Parallel zu seiner Beziehung mit der Theremin-Virtuosin Clara Rockmore, der er entscheidende Impulse bei der Weiterentwicklung seines Instruments verdankt, heiratet er die afroamerikanische Tänzerin Lavinia Williams und erfindet in Zusammenarbeit mit ihr das Terpsiton – eine interaktive Tanzbühne, durch die menschliche Bewegungen ins akustische Register übersetzt werden können. Auch dabei machte er sich die ungleiche Ladung von Schwingkreisen zunutze. Durch die gezielte Bewegung von Armen und Beinen auf einer isolierten Metallplatte können die Tonhöhen verändert werden. Zur gleichen Zeit wie Termen arbeitete auch der Filmemacher Dziga Vertov von Moskau aus an der Realisierung eines ähnlichen Entwurfs. Dieser wollte jedoch nicht menschliche Bewegungen, sondern filmische Bilder mittels neuer Methoden der Montage hörbar machen.
Grenzgänger
Auch in den USA blieb Lev Sergeyevich Termen ein Grenzgänger zwischen Physik und Musik, ein Erfinder mit außergewöhnlich gutem, akustischem Sensorium und fehlendem Geschäftssinn. Das Patent auf sein Instrument, das er an die Firma RCA verkaufte, wurde im Exil nur vorübergehend zum existenzsichernden Papier. In Amerika begegnen wir jedoch auch einer anderen Seite des jüdischen Pioniers, der sämtliche metaphysische Restbestände seiner Herkunft mit der Entscheidung für die wissenschaftliche Welt der Physik hinter sich gelassen zu haben schien. Aus Lev Sergeyevich Termen wird Leon Theremin, Experimentalmusiker, Dandy und Stammgast in den Salons der musikalischen Avantgarde. Seine Fernwirkung war den sowjetischen Behörden nicht entgangen: Unter ungeklärten Umständen verließ Theremin die USA im Herbst 1938. Bis heute ist nicht bekannt, ob seine Remigration erzwungen wurde oder aber aus Geldnot erfolgte. In Leningrad, so scheint es, war er nur deshalb für ein halbes Jahr aufgetaucht, um so bald wie möglich wieder von dort zu verschwinden. Nach dem Misslingen eines Fluchtversuchs nach Schweden im März 1939 verliert sich jede Spur. Für acht Jahre verschwindet Theremin in einem Arbeitslager in der sowjetischen Hafenstadt Magadan. Nach seiner Entlassung im Jahr 1947 erhält er den Stalinpreis und vertieft sich in abwegige Gebiete. Er beschäftigt sich unter anderem mit musikalischer Psychotechnik und folgt Anfang der Achtziger dem Ruf aus Moskau zur Gründung des Instituts für Elektronische Musik.
Erweiterung des Körpers
Leon Theremin hat viele Namen, lang war die Liste seiner Erfindungen. Sein Leben hingegen fand an beiden politischen Polen des 20. Jahrhunderts statt, entspann sich aber meist dazwischen, so wie die Elektronenladungen im Inneren eines Theremins. Ohne damit in unmittelbarem Kontakt zu stehen, reagiert dieses Instrument auch in seiner heutigen Bauweise eminent auf sämtliche Veränderungen in der Außenwelt. Theremins Großnichte, die Moskauer Thereministin Lydia Kavina, behauptet sogar, dass es besonders sensibel sei; aus diesem Grund gelänge es ihr nicht immer, all die Töne darauf zu erzeugen, die ihr gerade vorschwebten. Im Wissen um dieses Problem arbeitete Leon Theremin bis zu seinem Tod im Jahr 1993 unerbittlich an der Verbesserung seiner Erfindung. Entgegen ursprünglicher Intention entlasten die minimalistischen, aber äußerst rigiden Handbewegungen beim Spielen den Spieler nur bedingt und auch die exakte Gestaltung der jeweiligen Klangfarbe ist nur beschränkt möglich.
Theremins Name scheint heute in Vergessenheit geraten, nicht aber sein Instrument. Robert K. L. Wheeler von der Post-Punk-Band Pere Ubu setzt das Theremin bei seinen Live-Auftritten in ganz ähnlicher Weise ein wie Leon Theremin einst sein Terpsiton: als Erweiterung des Körpers, der infolge von Schwingungsdifferenzen selbst zum klingenden werden kann. Die Soap-Stars der Gegenwart hingegen vertrauen auf einen konventionelleren Gebrauch: In einer Folge der amerikanischen Sitcom The Big Bang Theory übt sich Sheldon in der einfachen Wiedergabe des Star Trek-Themas an einem selbstgebauten Instrument, das seine Freunde nicht zu kennen scheinen; jedem Geräuschemacher wäre dieses noch aus frühen Science-Fiction-Filmen bekannt, die dem Theremin auch das Image als »offical Hollywood mouthpiece of mental disorders« einbrachten. Sein Erfinder starb einsam. Die letzte Aufnahme, in der Lev Sergeyevich Termen vor seinem Tod zu sehen ist, war ein Zufallsfund. Die VHS-Kassette befand sich in einem Karton unter dem Bett eines Moskauer Filmemachers.
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