»In St. Pölten steht ein Tempel, in Wien ein Dixi-Häusl«

von David Mayer

Der Historiker Florian Wenninger leitet das »Institut zur Erforschung der Geschichte der Gewerkschaften und der Arbeiterkammer« in Wien. Ein Gespräch über schwarz-grüne Geschichtspolitik, den Begriff Austrofaschismus und die Notwendigkeit, aktuelle...


2849 wörter
~12 minuten

Florian Wenninger, Jahrgang 1978, lebt und arbeitet als Historiker in Wien. Bis Ende letzten Jahres war er am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien tätig. Seit sechs Monaten leitet er das »Institut zur Erforschung der Geschichte der Gewerkschaften und der Arbeiterkammer« in Wien.

Das Gespräch mit Florian Wenninger hat Christopher Glanzl für uns fotografisch festgehalten.

David Mayer | Seit Beginn dieses Jahres ist eine neue, schwarz-grüne Regierung im Amt. Was bedeutet diese Konstellation geschichtspolitisch – wenn man Geschichtspolitik als den immer umkämpften gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit versteht?

Florian Wenninger | Zunächst einmal ist es überraschend, wie konsensual sich die neue Regierung auf diesem Gebiet zeigt. Hätten dasselbe Regierungsprogramm Schwarz und Rot vereinbart, würden die Grünen jetzt völlig zu Recht schreien: »Das sind großkoalitionäre Abtauschgeschäfte!« Nach allem, was wir bislang wissen, soll das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) gestärkt werden; gleichzeitig soll es aber eine Parallelinstitution geben, die sich mit Antisemitismus und Rassismus beschäftigt – allerdings stärker auf den Islamismus gerichtet. Das heißt, die Grünen bekommen ein bisserl mehr für »ihr« DÖW – in dem freilich die ÖVP ebenfalls stark vertreten ist –, während die ÖVP eine neue Institution kriegt, deren Hauptaufgabe es ist, den Antisemitismus künftig vor allem in migrantischen Milieus zu verorten. Angesichts der stetig steigenden Zahl rechtsextremer Straftaten der blanke Hohn. Von der ÖVP und deren fehlender Auseinandersetzung mit der tragenden Rolle des Antisemitismus im politischen Katholizismus reden wir da noch gar nicht. Wirklich irritierend ist außerdem, und das haben die Grünen offenbar ohne größere Widerstände hingenommen, dass Wolfgang Sobotka sein Langzeitprojekt einer »Gedenkholding« durchsetzen konnte. Da sollen die wichtigsten erinnerungspolitischen Institutionen unter einem Dach gesammelt werden, aber nicht in einer unabhängigen Stiftung, sondern schön im Einflussbereich des Parlamentes – faktisch also bei dessen Präsidenten. Der würde dieser neuen Dachinstitution dann, wenn man die Zeichen richtig deutet, eine politisch genehme Führung vor die Nase setzen. Das verweist, finde ich, auf eine erstaunliche Lernfähigkeit der Volkspartei: Die ÖVP hat ja in der Zweiten Republik Geschichtspolitik lange eher verhalten betrieben.

DM | Warum? Das klingt für eine konservative Partei fast kontraintuitiv …

FW | Es gab für sie in diesem Feld kaum etwas zu gewinnen. Ihre Vorgängerpartei, die Christlichsozialen, waren – gerade in Wien – im Grunde nichts anderes als ein Sammelbecken antisemitischer Bürgervereine. Ihre monarchistisch orientierten Führungsgruppen standen 1918 der Republik feindselig gegenüber, drangsalierten die Demokraten in den eigenen Reihen und arbeiteten seit Ende der 1920er auf eine Diktatur hin, die sie 1933 ja auch bekamen. Es gab also keine Parteitradition, die nach 1945 breitenwirksam vermarktbar gewesen wäre. Traditionspflege gab es natürlich schon, aber vor allem im kleinen Kreis, seien das jetzt irgendwelche Dollfuß-Messen und -Feiern oder die Habsburgernostalgie diverser CVler – »Unser Motto, Kaiser Otto!« war glaube ich der Wahlspruch der Verbindung der ehemaligen Innenministerin Prokop. Weil das aber wohl auch die Mehrheit der ÖVP-Wählerschaft eher absonderlich finden würde, trug man es nicht nach außen. In den letzten Jahren, im Grunde seit dem Washingtoner Abkommen von 2003, ist hier eine Veränderung zu beobachten. Plötzlich erfindet sich die ÖVP als Trägerin eines »christlich-jüdischen Erbes« neu und ist mit einem Mal sehr für das Gedenken an die NS-Verbrechen. Auf den ersten Blick ist das ein bemerkenswerter Kurswechsel für die einstige Partei der Kameradschaftsbünde und des Kurt Waldheim. Wenn man aber etwas genauer hinschaut, zeigt sich, dass es der ÖVP dabei vor allem um eine Form des Marketings geht, nicht um Reflexion. Man hat gelernt, dass das Gedenken an den Nationalsozialismus mittlerweile wohlfeil ist, und man es diskursiv sauber trennen kann von heiklen Fragen über gegenwärtigen Rassismus. Vor allem kann man auch die Irritationen über Koalitionen mit vormaligen Neonazis reduzieren, wenn man zugleich in Mauthausen oder Yad Vashem gramgebeugt das Haupt senkt. 

DM | Du gehst also davon aus, dass die ÖVP eine kohärente Strategie im politischen Umgang mit der Vergangenheit hat?

FW | Ich glaube, das primäre Ziel der ÖVP ist es, dem, was sie für »rote« Geschichtsschreibung hält, etwas entgegenzusetzen. Das war schon in der Debatte rund um das Haus der Geschichte Österreich (HDGÖ) spürbar: Zuerst hat man, ohne genauere Vorstellung davon, was das eigentlich werden soll, in St. Pölten dieses »Haus der Geschichte – Museum Niederösterreich« als Konkurrenzprojekt aus dem Boden gestampft, dann sorgte man dafür, dass das HDGÖ chronisch unterfinanziert blieb. Abseits des Themas Austrofaschismus – bei dem das HDGÖ ohnehin sehr konziliant war – waren hier nicht Differenzen über Inhalte oder Vermittlungsmethoden ausschlaggebend. Es durfte nur nicht sein, dass die »Roten« in Wien Zeitgeschichte machen und die »Schwarzen« in St. Pölten nicht. Wichtig war die Botschaft: In St. Pölten steht ein Tempel und in Wien bloß ein Dixi-Häusl. 

DM | Wie steht es mit dem klassischen Zankapfel der innenpolitischen Geschichtsauseinandersetzung in Österreich, dem Februar 1934? »Schuldfrage – und kein Ende«, hast du vor nicht allzu langer Zeit gesagt. Viele Beobachterinnen und Beobachter würden wohl eher meinen, dass sich bei diesem Thema eine Art Kompromiss herausgebildet hat. 

FW | Das HDGÖ in der Hofburg hat solch einen Kompromiss ja probiert. In dieser Auseinandersetzung gerinnt vieles in der Label-Frage. In der Ausstellung des HDGÖ heißt es nun, wir hätten es mit einem »Dollfuß-Schuschnigg-Regime« zu tun gehabt. Eine mehr als fragwürdige Benennung. Es würde ja niemand auf die Idee kommen, in der wissenschaftlichen Diskussion von einem »Mussolini-Regime« oder von einem »Hitler-Regime« zu sprechen. In Österreich stellt dies eine Art Notlösung dar, um nicht »autoritäres Regime« oder »Austrofaschismus« sagen zu müssen. Es wäre aber inadäquat so zu tun, als ob dies eine wissenschaftlich abgestützte Begrifflichkeit wäre.

DM | Hinter dieser Formel steht nicht zuletzt Oliver Rathkolb, der Doyen der sozialdemokratischen Geschichtswissenschaft, an dessen Institut du auch lange Zeit 

gearbeitet hast.

FW | Wir sind in dieser Frage nicht einer Meinung und ich halte diesen »Kompromiss« für einen Fehler. Das ist kein Geheimnis. Man hat diese Formel ja nicht nur hingenommen, sie war eine vorauseilende Hinnahme. Ich glaube letztlich nicht, dass die Beurteilung der Zeit von 1933 bis 1938 damit dauerhaft außer Streit gestellt werden kann. Unter der Oberfläche ist das Thema für die Kader beider Parteien immer noch ein wichtiger Identitätsanker – natürlich unter entgegengesetzten Vorzeichen. Auch die wissenschaftliche Debatte dazu wird nicht abreißen, zumal das Faschismus-Paradigma im angelsächsischen Raum seit Jahren ein Comeback feiert. Aus meiner Sicht ist auffällig, dass der Begriff »Austrofaschismus« theoretisch deutlich fundierter ist als die Kritik daran.

DM | Inwiefern?

FW | Es gibt zahlreiche Quellen, die ganz eindeutig belegen, dass die Trägergruppen der Diktatur diese als eine Spielart des Faschismus verstanden. Schon in den 1930ern gibt es aber Reservationen, das Kind beim Namen zu nennen. Das hat mit dem Konkurrenzverhältnis von katholischer Arbeiterbewegung und Heimwehren zu tun, die weniger eine ideologische Differenz war, als vor allem eine institutionelle. »Faschismus« war ein Heimwehr-Label, das wollten Kunschak und seine Leute aus Prinzip nicht in Gebrauch sehen, auch wenn sie das meiste, wofür der Begriff stand, befürworteten. Nach 1945 hatte sich daran vorerst nichts geändert, Figl sprach noch sehr selbstverständlich von Austrofaschisten. Erst in Vorbereitung der Nationalratswahlen von 1949 hat die ÖVP eingesehen, dass man keinen Blumentopf gewinnt, wenn man in der Öffentlichkeit als ehemalige faschistische Gruppierung wahrgenommen wird. Seit damals führt sie systematisch alternative Begrifflichkeiten ein. Dabei macht man sich gar nicht erst die Mühe, diese alternativen Begriffe theoretisch zu untermauern: Wichtig ist die Zurückweisung der Zuschreibung »faschistisch«. Alles andere ist sekundär.

DM | Zurück zum Haus der Geschichte. Was lässt sich von Schwarz-Grün für dessen Zukunft erahnen?

FW | Ich mutmaße, ohne dafür Belege zu haben, dass das HDGÖ über kurz oder lang erledigt ist – es wird entweder zugesperrt oder in die neue Holding überführt, um es dann mit mehr Geld, aber gewogenerem Personal umzugestalten. Pointiert formuliert: Der »rote« Rathkolb muss weg. Alles Weitere kann man dann sehen.

DM | Haben die Grünen so etwas wie ein eigenes Geschichtsbild, eine geschichtspolitische Form, die sich unterscheidet von der klassischen Auseinandersetzung zwischen den zwei großen Lagern? 

FW | Ich denke schon. Die geschichtspolitische Debatte der 1980er Jahre – Stichwort: Auseinandersetzung mit der NS-Zeit – wurde ja maßgeblich von Leuten geführt, die damals schon bei den Grünen waren oder später bei ihnen landeten. Zugleich spielt, im Gegensatz zu den Sozialdemokraten oder der ÖVP, die Zwischenkriegszeit aus grüner Sicht nur eine geringe Rolle. Mit Ausnahme der grünen Jugendorganisation und historisch interessierter grüner Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter vielleicht. Abgesehen davon wundere ich mich immer wieder, welch geringe Rolle in der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte die Tradition des Ökofaschismus spielt. Natur bewahren, das Naturgewachsene achten bis hin zu »Blut und Boden«, diese braune Ursprungswurzel der Grünen – eine von mehreren, aber doch – wird erstaunlich wenig reflektiert. Dabei war sie bis zur Besetzung der Hainburger Au in der Grünbewegung doch relativ prominent.

DM | Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten »runden« Erinnerungsereignisse im Jahr 2020? 

FW | Da gibt es mehrere, auf österreichischer Ebene fielen mir natürlich als erstes 100 Jahre Bundesverfassung ein – und damit die Frage, was im Weiteren jeweils mit dieser passiert ist. Ich denke da an die Föderalisierung im Jahr 1925, die Autoritarisierung vier Jahre darauf, oder das Verfassungsüberleitungsgesetz von 1945, das, weil Renner nur ja keinen Konflikt mit der ÖVP wollte, auf die autoritäre Variante von 1929 rekurriert, statt auf die von 1920, die ein wesentlich stärkeres Parlament vorsah. Damit verbunden ist außerdem die Frage, welchen Stellenwert die Verfassung im Bewusstsein der Bevölkerung hat – ob es also eine Art Verfassungspatriotismus als Alternative zum vorherrschenden, unsäglichen Kulturpatriotismus gibt.

DM | Das zweite wichtige Jubiläum des Jahres 2020 steht im Mai an: 75 Jahre Kriegsende beziehungsweise die Befreiung vom NS-Regime. Schon bei den letzten Jubiläen sah man eine Haltung, bei welcher der Befreiungsbegriff gerade noch akzeptiert wurde. Was siehst du da im Jahre 2020 kommen? Gibt es Möglichkeiten, andere Akzente zu setzen?

FW | Das ist wohl das geschichtspolitisch letzte Tabu: die Frage nach der Befreiung 1945, also letztlich die Frage nach der Beurteilung des Kommunismus, die mit dem Kriegsende untrennbar verbunden ist. Ich glaube, hier vollzieht sich eine eigenartige Annäherung aller politischer Parteien –
mit Ausnahme der KPÖ. Sie schlägt sich unter anderem in jener Totalitarismus-Resolution nieder, die im EU-Parlament im September letzten Jahre verabschiedet und die von ÖVP, SPÖ und Grünen mitgetragen wurde – darunter etliche Abgeordnete, die sonst bei jeder Gelegenheit ihren historisch-moralischen Zeigefinger heben. Es gelingt also, maßgeblich vorangetrieben von osteuropäischen Akteuren, aber nicht nur diesen, eine totalitarismustheoretische Perspektive durchzusetzen, die nach wissenschaftlichen Kriterien ja jeder Beschreibung spottet und in den 1960er Jahren schon als erledigt galt. Wer hätte gedacht, dass ein solcher Unsinn allen Ernstes noch ein Revival feiern würde? Dieser geschichtspolitische Zombie, der da durch Europa torkelt, spiegelt sich auf österreichischer Ebene im Umgang mit der Befreiung 1945. Jetzt ist klar, dass die Befreiung mit massiver Gewalt verbunden war und dass ein Gutteil der Bevölkerung sie nicht als solche empfunden hat. Das bedeutet aber doch nur, dass wir nicht um eine ausdrücklich politische Beurteilung dieses Vorganges herumkommen: War es jetzt eine zweite Besetzung, eine neuerliche Unterjochung? Oder haben die alliierten Truppen – einschließlich der Roten Armee – nicht doch die Voraussetzung für die Wiedererrichtung von Demokratie und Rechtstaat geschaffen? 

DM | Lass uns zum Verhältnis der SPÖ zur Geschichte kommen. Im medialen Meinungsgeplauder hieß es jüngerer Zeit immer wieder, die SPÖ habe kein überzeugendes »Narrativ« mehr, was auch den Bezug auf ihre eigene Geschichte einschließt. Ist die tiefe Krise der Sozialdemokratie symptomatisch an ihrer zunehmenden Unfähigkeit abzulesen, eine Geschichtsdeutung vorzulegen?

FW | Ich habe 2009 mit insgesamt 96 anderen Historikerinnen und Historikern eine Plattform gegründet, welche die Bundesregierung dazu aufforderte, die Opfer der austrofaschistischen Repressionspolitik in den Jahren 1933 bis 1938 zu rehabilitieren. Darüber hinaus forderten wir die Errichtung eines Denkmals für die Opfer des Februar 1934, und zwar als Denkmal für Menschen, die ihr Recht auf staatsbürgerliche Notwehr ausübten. Nun hätte man meinen können, dass die Sozialdemokratie einem solchen Anliegen geradezu überbordende Unterstützung angedeihen lassen würde. Die bedrückende Erkenntnis war, dass insbesondere für das Denkmal wenig Begeisterung aufkam. Und zwar nicht nur auf Bundesebene, wo die großkoalitionäre Situation so etwas erschwerte, sondern auch in Wien. Der damals zuständige Stadtrat für Kultur gab uns zu verstehen: Über ein Denkmal – im moderaten Kostenrahmen und ohne Ausschreibung – ließe sich reden, unter der Voraussetzung freilich, wir könnten ein verfassungsrechtliches Gutachten beibringen, das zweifelsfrei feststellt, dass es in Ordnung gewesen sei, im Februar 1934 auf Bundesbehörden zu schießen.

Worauf ich hinaus will: Die SPÖ hat im Gegensatz
zu den Konservativen ein relativ stark ausgeprägtes Geschichts- und Traditionsbewusstsein. Das äußert sich beim Februar 1934 genauso wie bei der Präsenz der Freiheitskämpfer in der internen Parteikultur. Zugleich sind diese hochgehaltenen Geschichtsbezüge auf merkwürdige Art ihrer politischen Inhalte entkleidet. Natürlich gibt es viele, die das gerne anders halten würden, etwa in den Jugendorganisationen oder in der Frauenorganisation, zum Teil auch in den Gewerkschaften. Es gibt auch beeindruckende regionale Schwerpunkte, etwa das großartige Museum
Arbeitswelt in Steyr, das kein Parteimuseum ist, aber das sich der Geschichte der Arbeiterbewegung in einer politischen Art und Weise nähert, oder das Museum im Waschsalon des Wiener Karl-Marx-Hofes. Aber solche Projekte gibt es dank einzelner Akteure im Feld, sie sind nicht das Ergebnis eines kohärenten geschichtspolitischen Anspruchs. Die Sozialdemokratie versucht tendenziell Geschichtspolitik zu betreiben, ohne über Politik zu reden. Es geht um eine Erinnerungskultur, die ohne Klassenbewusstsein auskommen will. Das Problem ist nicht ein fehlendes Narrativ, sondern dass dieses Narrativ entkernt wurde. 

DM | Ende des letzten Jahres bist du von der Universität in die Arbeiterkammer gewechselt, um dort die Leitung des »Instituts zur Erforschung der Geschichte der Gewerkschaften und der Arbeiterkammer« zu übernehmen. Was sind die Aufgaben dieses Instituts und welche Möglichkeiten siehst du in dieser Rolle?

FW | Mit dem Namen des Instituts ist das bisherige Aufgabengebiet recht präzise umrissen: Organisations- und Institutionsgeschichte der Arbeiterbewegung. Ich denke aber, dass wir unsere Perspektive stark erweitern müssen. Nicht nur, weil eine enge Organisationsgeschichte nur eine überschaubare Anzahl von Leuten interessiert, sondern auch, weil die historische Nabelschau über die Gewerkschafts- und AK-Funktionäre hinaus politisch wenig Wert hat. Es sollte doch letztlich immer um die Frage gehen, wie man als Historiker oder Historikerin zur sozialen Emanzipation beitragen kann. Ich denke, eine Möglichkeit besteht darin, aktuelle politische Fragestellungen in die Vergangenheit zurückzuwerfen, aus dem Fundus der bereits gegebenen Antworten zu schöpfen, ohne sich natürlich zwangsläufig auf sie zu beschränken. Wir Geschichtsarbeiterinnen und Geschichtsarbeiter sollten zeigen, wie viele alternative Entwicklungsmöglichkeiten es gegeben hat und immer noch gibt. Andernfalls tragen wir unfreiwillig zu diesem ständigen Versuch bei, den Menschen das Bewusstsein von Wirkmacht zu nehmen, sie zu entmutigen und zu demoralisieren. 

DM | Hast du hier schon konkrete Arbeitsvorhaben und Themen?

FW | Einerseits geht es darum, Forschung voranzutreiben in Bereichen, die uns wichtig sind: Sozialgeschichte, politische Geschichte oder Wirtschaftsgeschichte, immer mit einem starken Fokus auf die österreichische Gesellschaft. Zum anderen wollen wir aber dazu beitragen, Forschungsergebnisse bekannt zu machen, sie für die Öffentlichkeit besser zugänglich zu machen. Was meines Erachtens eine verantwortungsvolle Geschichtspolitik ausmacht. Nicht das Hinbiegen der Vergangenheit nach Bedarf, sondern eine Konzentration auf Fragen, die heute noch eine Rolle spielen. Wir wollen in Kooperation mit der Universität Wien ein Geschichtsportal aufbauen, das sich dieser Aufgabe verschreibt: aktuelle politische Fragestellungen durch Vergleiche mit der Vergangenheit neu zu beleuchten. Zugleich wollen wir Sozial- und Alltagsgeschichte wieder stärker aufgreifen. 

Ich bin ja seit über 15 Jahren in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit aktiv. Und was interessiert die Teilnehmerinnen dieser Kurse am meisten? Ihre eigene Geschichte. Denn es ist ein bürgerliches Privileg zu wissen, wer die eigenen Vorfahren waren und was sie gemacht haben. In Arbeiterhaushalten fehlen diese Geschichten, es gibt keine Briefe, Tagebücher oder Fotos, geschweige denn Erbstücke wie Möbel oder Einrichtungsgegenstände, die helfen würden, einen eigenen Faden zurück in die Vergangenheit zu spinnen. Je mehr ich aber über mich und mein Herkommen weiß, desto mehr Selbstbewusstsein habe ich auch: Man ist nicht nur ein Sandkorn, sondern das Ende einer langen Kette. Deshalb waren in den siebziger und achtziger Jahren auch die Geschichtswerkstätten ein so wesentliches Anliegen, in denen Menschen dabei unterstützt wurden, ihre unmittelbare Umgebung zu erforschen. Diese Geschichtswerkstätten sind dem liberalen Modernismus der 1990er Jahre zum Opfer gefallen. Ich würde sie gerne wieder anstoßen. Das funktioniert natürlich nicht von heute auf morgen. Man muss sich überlegen, ob die damaligen Konzepte noch funktionieren, man muss sich natürlich nach der Decke strecken in Bezug auf die Ressourcen. Das wird nicht einfach, aber ich bin recht zuversichtlich, dass es da draußen nicht nur eine große Sehnsucht nach Zukunft gibt – sondern auch nach Vergangenheit.

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