Vom Durst nach der Revolution

von Lukas Oberndorfer

In der chilenischen Hauptstadt Santiago drängten am 8. März, dem Internationalen Frauentag, mehr als eine Million überwiegend weibliche Demonstrantinnen auf die Straße. Damit gaben sie den seit Monaten anhaltenden Protesten...


2158 wörter
~9 minuten

In einem Meer aus Violett und Grün, die Farbe der Frauenbewegung und die des Rechts auf Abtreibung, fand sich jene Losung wieder, welche die soziale Bewegung seit nunmehr fünf Monaten begleitet: »Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und er wird in Chile sterben!«

Was als Aufbegehren gegen eine Fahrpreiserhöhung der Metro de Santiago begann, entwickelte sich schnell zu einer Revolte, die das ganze Land erfasste und sich gegen ein System richtet, in dem der Markt alle Lebensbereiche diktiert. Am Anfang stand der zivile Ungehorsam von Schülern und Schülerinnen, welche kollektiv die Drehkreuze der Metro übersprangen. Das brutale Vorgehen der Carabineros, so der Name der militarisierten Polizei in Chile, die ihre Wurzeln in der kolonialen Aufstandsbekämpfung hat und seit dem Ende der Diktatur Pinochets nicht grundlegend reformiert wurde, ließ den Funken überspringen.

Freiwillige Ersthelferinnen versorgen die Einschusslöcher von Schrottkugeln, die illegal mit Blei versetzt wurden.
FOTO: CRISTINA WOOD

In der ganzen Stadt kam es am 18. Oktober zur massenhaften Nachahmung der Umgehung der Fahrpreise. Aufgrund der Zusammenstöße mit der Polizei, die 90 Prozent ihrer Einsatzkräfte in den Metrostationen konzentrierte, musste der Betrieb eingestellt werden. Damit war das zentrale Verkehrssystem unterbrochen, das die breite Masse aus der städtischen Peripherie unterirdisch zu ihrer Arbeit in die Zentren der kapitalistischen Metropolen befördert. Die Suche nach Alternativen an der Oberfläche der Stadt mündete schnell in Demonstrationszügen. Gegen diese setzten die Carabineros, wie die Menschenrechtsaktivistin Nayra Illich berichtet, brutal und unverhältnismäßig ihr ganzes Arsenal an »nicht-tödlichen« Waffen ein: Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse und Schrotkugeln.

In der Nacht griffen die Proteste aufs ganze Land über und reißen seither nicht mehr ab. Cacerolazos, die in der Diktatur entwickelten Lärm-Demonstrationen, in denen kollektiv Kochtöpfe geschlagen werden, waren nirgends mehr zu überhören. Supermärkte wurden geplündert und Metrostationen in Brand gesetzt. Auch wenn bis heute unklar ist, wer genau dafür verantwortlich ist, kommt ihnen nach Mario Garcés eine symbolische Bedeutung zu. »Die Supermärkte repräsentieren das Kapital im Alltag der Menschen«, berichtet der an der Universidad de Chile lehrende Bewegungsforscher. »Sie stehen für Zugang zu Gütern, den sich die Bevölkerung aufgrund der prekären Arbeitsverhältnisse und der enorm gestiegenen Privatverschuldung immer weniger leisten kann.« Die Metro hingegen symbolisiere laut Garcés den Staat, der das Leben der Menschen verwaltet, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, es mitzugestalten.

Wenufoye, die Flagge der indigenen Mapuche, ist zu einem allgemeinen Zeichen des Widerstandes geworden. FOTO: CRISTINA WOOD

Die Ursachen der Revolte

Der Protest in Chile richtet sich nicht allein gegen die neoliberale Ökonomie, die die Pinochet-Diktatur ab 1973 mit roher Gewalt durchsetzte, sondern auch gegen eine politische Klasse, die dagegen – trotz der formalen Demokratisierung ab 1988 – nichts Entscheidendes unternahm. »Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre« war daher eine weitere Losung der Bewegung, die das Verhältnis von Auslöser (Fahrpreiserhöhung um 30 Pesos) und Ursachen der Proteste auf den Punkt bringt.

»Die Menschen haben lange an die Erzählung der linksliberalen Politik geglaubt, dass ein besseres Leben für alle die Konsequenz von freien Wahlen und Wettbewerb ist«, meint Sebastián Jatz. Doch gerade im letzten Jahrzehnt sei immer deutlicher geworden, so der Bewegungsaktivist, dass dem die massive Ungleichheit und ihre politische Institutionalisierung im Wege stehen. Menschen sterben, weil sie wegen der langen Wartezeiten eines privatisierten Gesundheitssystems nicht behandelt werden. Seit der Weltwirtschaftskrise sind die Preise für das Wohnen massiv gestiegen. Die aufgrund völlig deregulierter Arbeitsbedingungen stagnierenden Löhne reichen nicht für die überhöhten Lebensmittel- und Medizinpreise sowie die hohen Kosten eines kommerziellen Bildungssystems. In Supermärkten, Tankstellen und Verkehrsunternehmen bedienen oft alte Menschen, weil die Renten des an die Finanzmärkte gekoppelten Pensionssystems (AFP) nicht zum Leben ausreichen. Welche Verwüstung der neoliberale Kapitalismus in Chile anrichtet, zeigt ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation aus 2017: 17 Prozent der Menschen leiden unter Depressionen. Im globalen Vergleich ist Chile damit tragischer Spitzenreiter. Allein im letzten Jahrzehnt verfünffachte sich der Konsum von Psychopharmaka.

Die ökologische Krise spitzt sich zu

In der »gesellschaftlichen Explosion«, wie die Proteste in Chile genannt werden, verdichten sich neben ökonomischen, politischen und sozialen noch weitere Widersprüche: Seit 2010 erlebt Chile eine durch die Klimakrise verursachte Dürre von bisher unbekanntem Ausmaß. Die Regenfälle sind um 40 Prozent zurückgegangen. Das setzt ganze Dörfer und die oft indigene Kleinbauernschaft unter Druck, die auf den Zukauf von Wasser angewiesen sind, weil ihre angestammten Quellen versiegen. Selbst in die städtische Wahrnehmung reicht diese Entwicklung zunehmend hinein: Die Lagune von Acuelo, siebzig Kilometer südlich von Santiago und vor wenigen Jahren noch ein beliebter Badeort, hat als Wasserfläche 2018 zu existieren aufgehört. Dementsprechend war auf einem Demo-Schild im Oktober zu lesen: »Die Dürre hat uns durstig nach Revolution gemacht!«

Auch eine gewaltige Repressionswelle konnte den Protest nicht zum Schweigen bringen. FOTO: CRISTINA WOOD

Verschärft wird die Situation dadurch, dass Pinochet das gesamte Wasser Chiles privatisierte. So konnten sich jene Großunternehmen, die für das extraktivistische Entwicklungsmodell des Landes stehen, in dem große Minen-, Agro- und Forstbetriebe den Boden für Exportgüter ausbeuten, umfängliche Wassernutzungsrechte sichern. Da sie trotz Trockenheit nicht bereit sind, auch nur einen Tropfen zu teilen, verschärfen sich die Konflikte.

Im Petorca-Tal verenden aufgrund der Dürre die Tiere der Kleinbauern. Die grünen Avocado-Plantagen hingegen erstrecken sich aufgrund des Zugangs zu Wasser bis in Bergregionen, wo bisher nur Kakteen wuchsen. Aus Protest blockierten die Kleinbauern und -bäuerinnen daher im letzten Jahr die Zugänge zum Tal, indem sie brennende Barrikaden aus den Kadavern ihrer verdursteten Tiere errichteten. Rosanna Caldana, eine Wasserrechtsaktivistin, die in den Bergen über Santiago gegen den transnationalen Bergbaukonzern Anglo American kämpft, der die Wasserversorgung der Stadt durch die Errichtung einer Mine zu gefährden droht, spricht eine wichtige Konfliktlinie an, die hinter der Revolte in Chile steht: »Wir fordern vom Staat, dass er die Eigentumsfreiheit nicht länger über die Menschenrechte stellt!«

Kampf um Würde

Der ehemalige Plaza Baquedano, benannt nach einem imperialistischen General, der im 19. Jahrhundert eine blutige Rolle im Kampf gegen die indigenen Mapuche spielte, wurde von den Protestierenden in Plaza Dignidad umbenannt. Hier treffen sich jeden Freitag jene Menschen zu Demonstrationen, deren Würde im chilenischen Alltag verletzt wird. Arme und Jugendliche, die in den unterfinanzierten Jugendwohlfahrteinrichtungen (Sename) missbraucht wurden, haben einen Platz in der »primera linea« (erste Linie) gefunden. Diese versucht, die Demos mit ihren Körpern vor der Gewalt der Carabineros zu schützen. Frauen und Queers kämpfen für Gleichberechtigung und gegen die patriarchale Gewalt, die ihre körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung in Frage stellt. Die hier entstandene und weltweit nachgeahmte Performance »Ein Vergewaltiger auf deinem Weg« des feministischen Kollektivs »La Tesis« verbindet die Kritik an sexuellen und staatlichen Gewaltverhältnissen – ein Umstand, den die Medien in ihrer Berichterstattung weitgehend unterschlugen.

Ebenso präsent sind die Fahnen der »Hinchas«, der Fußballfans von Colo-Colo und »La U«, die neben den Bannern gegen das finanzialisierte Pensionssystem (»No + AFP«) die starke Beteiligung der Arbeiterklasse an den Protesten symbolisieren. Dazwischen mischen sich die Protestrufe linker Parteien, der Umwelt-, Schüler- und Studierendenbewegung. Unter zahlreicher Beteiligung der indigenen Mapuche setzt die Bewegung auch immer wieder antikoloniale Aktionen. Beispielsweise stürzten sie in La Serena, Concepción, Temuco und Valdivia die Denkmäler kolonialer Herren und Mörder vom Sockel und ersetzten sie durch die Darstellung indigener Widerstandskämpferinnen. Doch die Wenufoye, die Flagge der Mapuche, wird längst nicht mehr nur von Indigenen allein getragen. Vielmehr ist sie zu einem allgemeinen Zeichen des Widerstandes geworden. »Angesichts der Vielfachkrise unseres Systems«, meint Alexandra Mabes, »sind wir auf der Suche nach einer Alternative zur kapitalistischen Unterwerfung der Welt.« Die egalitäre Produktions- und Lebensweise der indigenen Bevölkerung Chiles bietet sich daher als Inspirationsquelle für die Bewegung an, findet die Künstlerin und Aktivistin.

Die Mapuche scheinen aber auch deswegen zum Symbol des Widerstandes geworden zu sein, weil sie aufgrund des Kampfes um ihr Land im Süden von Chile schon seit Jahrzehnten dem ausgesetzt sind, was sich seit Oktober gegen die chilenische Mehrheitsbevölkerung richtet: einer Gewalt des Staates, die jeder Rechtsstaatlichkeit entkleidet ist. Als der Protest in der Nacht auf den 19. Oktober nicht abreißen wollte, verhängte der konservative Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand und Ausgangssperren. Damit ging die Entscheidungsmacht und die Kontrolle der öffentlichen Ordnung an das Militär über. In einer Ansprache befand Piñera: »Wir sind in einem Krieg gegen einen mächtigen Feind.« In den folgenden Tagen kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen des Militärs und der Carabineros, die oft durch heimlich gedrehte Videos in den sozialen Medien Verbreitung fanden.

Im Kriegszustand

Doch die Repression verfehlte ihr Ziel und brachte immer mehr Menschen gegen die Regierung auf. Viele fühlten sich an die Zeiten der Diktatur erinnert. Am 25. Oktober nahmen selbst nach Angaben der Polizei in Santiago 1,2 Millionen Menschen am größten Demonstrationszug in der Geschichte Chiles teil. Dieser richtete sich gegen die staatliche Repression und die Regierung und forderte soziale Rechte und eine verfassungsgebende Versammlung. Unter dem Druck der Massen musste Piñera seine Strategie des reinen Zwanges aufgeben und erklärte in den folgenden Tagen die Aufhebung des Ausnahmezustandes.

Die Regierung knickte nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Konsequenzen der Proteste ein. Der Geschäftsrückgang soll sich nach Angaben der chilenischen Handelskammer bereits Ende Oktober auf rund 1,5 Milliarden Euro belaufen haben. Der durch Kapitalflucht ausgelöste Verfall des Pesos konnte nur durch die größte Intervention der Notenbank in der chilenischen Geschichte gestoppt werden. Das erwartete Wirtschaftswachstum ging stark zurück.

Doch selbst eine Serie an Zugeständnissen, wie die Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen, ein teilweiser Rücktritt des Kabinetts, ein Paket sozialer Maßnahmen (darunter die Erhöhung von Mindestlohn und -pension), eine Senkung der Politikergehälter und schließlich eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung, blieben wirkungslos. Der Regierung gelang es nicht, der Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dementsprechend setzte sich neben den Konsensangeboten auch der Zwang ganz ohne Ausnahmezustand fort. In Chile wird ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt: Mehr als 3600 Protestierende mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden, rund 360 wurden an den Augen verletzt, viele davon verloren ein oder beide Augen, sieben Menschen starben aufgrund des polizeilichen Vorgehens. Mit den Tränengaskartuschen wird oft aus kurzer Distanz auf Kopf oder Körper der Demonstrierenden geschossen und in den ebenso eingesetzten Schrotkugeln, die eigentlich ausschließlich aus Gummi bestehen sollten, wurde ein illegaler Bleigehalt von 20 Prozent nachgewiesen. Zuletzt starb am 7. März der Arbeiter Christián Valdebenito, nachdem er von einer Tränengaskartusche im Gesicht getroffen wurde. UNO, Amnesty International und das staatliche Institut für Menschenrechte kommen in ihren Berichten zu gleichen Ergebnissen: In Chile ist es seit Oktober zu exzessiver Polizeigewalt und schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen, die weitgehend keiner internen Aufarbeitung zugeführt wurden.

Die staatlich angeordnete Repression hat die Vertrauens- und Repräsentationskrise in Chile weiter zugespitzt. Laut neueren Umfragen genießt Präsident Piñera das Vertrauen von gerade einmal neun Prozent der Bevölkerung. Die politische Krise trifft aber nicht nur die Rechte, sondern nahezu die gesamte politische Klasse. Dies verdeutlicht der Umstand, dass auch die Parteien links von der Sozialdemokratie (Partido Comunista und das Parteienbündnis Frente Amplio) nur etwa die doppelten Vertrauenswerte von Piñera erreichen.

Manifestation der Gegenmacht

Die gemeinsame Verlautbarung fast aller Parteien im Morgengrauen des 15. November letzten Jahres, dass die Bevölkerung über eine neue Verfassung abstimmen darf, wird von den Aktivistinnen und Aktivisten insgesamt nüchtern betrachtet (siehe dazu auch den Beitrag von Karin Fischer auf Seite 10). Dennoch ist sie ein großer Erfolg. Bis zu diesem Zeitpunkt galt es als unvorstellbar, dass die chilenische Rechte die aktuelle, noch unter Pinochet ausgearbeitete Verfassung zur Diskussion stellen könnte. Deren neoliberale Grundausrichtung sollte einen demokratischen Weg zum Sozialismus, wie ihn die Unidad Popular unter Salvador Allende unternommen hatte, auf alle Zeit rechtlich unmöglich machen.

Die Protestbewegung will unabhängig vom verfassungsgebenden Prozess weiter für die unmittelbare Umsetzung sozialer Maßnahmen kämpfen, die der neoliberalen Politik unmittelbar ein Ende setzen sollen. Auch die in den letzten Monaten entstandenen Formen und Orte radikaler Demokratie werden sich laut dem Bewegungsforscher Mario Garcés vertiefen müssen, um als Gegengewicht wirken zu können. Im ganzen Land entstanden seit Oktober Cabildos, nachbarschaftliche Räte, die als Orte der kollektiven Meinungsbildungen viele Forderungen und Losungen der Bewegung entwickelten, die die Politik später aufgreifen musste. Wie diese bundesweit zusammenwirken und ob eine konstituierende Versammlung der Bewegungen angestoßen werden kann, rückt jetzt zunehmend in den Fokus ihrer Debatten.

An den neu entstandenen Orten und auf den Plätzen der chilenischen Revolution wird eine Gesellschaft greifbar, die verselbständigte Verhältnisse durch solidarisch, bewusst und demokratisch gestaltete ersetzen könnte. In Chile erleben wir vielleicht nicht den Tod des neoliberalen Kapitalismus, aber es wird greifbar, wie der Anfang seines Endes aussehen könnte.

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