Verflixt. Schon wieder kein Faschismus

von Richard Schuberth

Illustration: Christoph Kleinstück

Gräbt Sebastian Kurz, der aktuelle Bonbonautomat des Kapitals, das Kruckenkreuz aus? Über Faschismus-Verharmlosung, autoritäre Erlösungsträume und den perfekten neoliberalen Herrschaftsalgorithmus.


3842 wörter
~16 minuten

Mit dem Vorwurf des Faschismus ist es wie mit dem eingebildeten Krebs. Kommt er mal wirklich, glaubt es einem keiner mehr. Es gehört schon zur linken Folklore, nostalgisch der Zeiten nach 1968 zu gedenken, da das Attribut faschistoid – ursprünglich ganz brauchbar zum Entlarven nationalsozialistischer Nachkriegskontinuität und ungebrochen autoritären Bewusstseins – der Lieblingsvorwurf des WG-Frühstückstischs war. Was war damals nicht alles faschistoid: Mitbewohner, die das Geschirr nicht spülten, oder Typen, die entweder zu sehr klammerten oder nach der ersten Nacht schon verschwunden waren. Dogmatische Linke, für welche Faschismus ohnehin nicht mehr als der Wurmfortsatz des Finanzkapitalismus bedeutete, hatten ein anderes Lieblingswort für alles, was sie doof fanden: konterrevolutionär. So brandmarkte Ungarns Staatschef Mátyás Rákosi Anfang der 1950er Jahre etwa das Erdreich unter Budapest, weil es sich hartnäckig dem Bau der neuen U-Bahn widersetzte.

Man muss nicht alle der dreitausend Faschismusdefinitionen und -theorien kennen, denn schließlich haben sich die diversen Faschismen nicht nach Lektüre der politologischen Kriterienkataloge formiert, sondern diese Maß an jenen genommen. Und wie Viren mutiert auch Faschismus. Wer aber vollmundig die Faschismusdiagnose stellt, sollte zumindest wissen, welchen Teststreifen er verwendet, und immer prüfen, ob er Faschismus nicht vielleicht verharmlost.

»SEBASTIAN KURZ WEISS WEDER,
WIE EINE HOSTIE, NOCH, WIE EIN
PFARRER SCHMECKT. DER EINZIGE
PRÄL AT, FÜR DEN ER JE ZU
MINISTRIEREN GELERNT HAT,
IST DIE PRIVATWIRTSCHAFT.«

Marxistisch inspirierte Faschismuserklärungen hatten den bürgerlichen stets voraus, dass sie nicht bloß Rückfall in Barbarei und Totalitarismus konstatierten, sondern das Verhältnis zum Kapitalismus mitdachten. Bei der Königsdiktatur Henry VIII. kann man demzufolge nicht von Faschismus sprechen. Wer aber vom Kapitalismus nicht reden wolle, sollte auch vom Faschismus schweigen, sagte Horkheimer. Doch wer Faschismus nur als ideologische Funktion des Kapitalismus fasst, fällt hinter bürgerliche Theorie zurück, und unterschätzt dessen Eigengesetzlichkeit, mit seinen antimodernistischen, kleinbürgerlichen, eliminatorischen und mitunter antikapitalistischen Ideologemen. Nicht jede autoritäre Regierung, nicht jede Militärdiktatur, in welcher das Kapital Zuflucht vor seiner Krisenhaftigkeit und demokratischen Anfechtungen nimmt, muss zwingend faschistisch sein.

Jetzt weiterlesen? Das sind Ihre Optionen.

DIESE AUSGABE
KAUFEN

Jetzt kaufen
Erhalten Sie ab nur 8,50 Euro Ihren Online-Zugang zu allen Beiträgen dieser Ausgabe. Das gedruckte Heft erreicht Sie demnächst per Post.

JETZT
ABONNIEREN

Zu den abos
Mit einem Abo lesen Sie das TAGEBUCH online unlimitiert. Jede gedruckte Ausgabe erhalten Sie, je nach Modell, bequem per Post. Ab 29 Euro.
0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop