Ernst Fischer über Paul Celan

von David Mayer

An dieser Stelle dokumentieren und kontextualisieren wir Beiträge aus fast fünf Jahrzehnten TAGEBUCH. In dieser Ausgabe: ein Nachruf von Ernst Fischer auf den im April 1970 verstorbenen Lyriker Paul Celan.


632 wörter
~3 minuten

Ende April 1970 nahm sich der aus Czernowitz stammende Lyriker Paul Celan in Paris das Leben. Galt er zu diesem Zeitpunkt bereits als international bekannter Autor, so hatte sein Werk, insbesondere sein Gedicht Todesfuge noch nicht Eingang in die gleichermaßen bedeutsame wie fragwürdige Ehrenhalle des Schulbuchkanons gefunden. Im Juni 1970 reagierte der Schriftsteller und langjährige kommunistische Politiker Ernst Fischer in einem Nachruf im Wiener Tagebuch auf Celans Tod. Er trägt in diesem Erinnerungstext drei Gedanken vor: Zunächst wirkt er an dem sich Anfang der 1970er Jahre erst langsam ausformenden Bewusstsein mit, dass die Shoa (oder, in der damaligen Diktion, »Auschwitz«) den Rahmen der vorangehenden Gewaltgeschichte der modernen Gesellschaften überschritt. Zugleich bezieht er diese Erfahrung auf zeitgenössische Ereignisse der genozidalen und systematischen Gewalt – etwas, das heute vielen, zumindest im deutschen Sprachraum, bereits als gefährlicher Schritt der Relativierung gilt. Hört man Fischer genau zu, wird indes deutlich: In Bezug setzen heißt nicht automatisch in eins setzen. Zuletzt verweist Fischer auf die gleichsam universelle Frage Celans, wie Sprache an und gegen sprachjenseitige Erfahrungen arbeiten kann und verbindet dies mit einer aus heutiger Sicht treffgenauen »algorithmischen Prophezeiung«.

Ernst Fischer

TodesfugeIn memoriam Paul Celan

Paul Celan ist tot. Der fünfzigjährige, aus Czernowitz stammende Dichter hat sich in der Seine ertränkt, müde der fürchterlichen Welt, in der zu leben wir verdammt sind. Lautlos versank er; sein Tod machte keine Schlagzeilen, wie man im Pressejargon zu sagen pflegt; die welterschütternde Nachricht des Tages kam aus Kambodscha, dessen Grenze amerikanische Truppen überschritten, um Ortschaften dem Erdboden gleichzumachen, die Einwohner niederzumetzeln, bis zum letzten Kind. Zwischen den beiden Ereignissen gibt es keinerlei kausalen Zusammenhang; dennoch grenzt der Zufall ihrer Koinzidenz ans Schicksalhafte.

Nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben, sagte einst Adorno. Der jüdische Flüchtling aus Czernowitz, dessen Mutter an Hitler
starb, […] hat ihn widerlegt. Er schrieb ein Gedicht, dessen Thema Auschwitz war, die »Todesfuge«, das großartigste Gedicht deutscher Sprache nach 1945. […]

Die Gaskammern von Auschwitz, die Verbrennungsöfen sind zu Gedenkstätten geworden – doch Auschwitz ist nicht Vergangenheit, es greift um sich, quer durch die Kontinente. Kinder sterben durch amerikanische Napalmbomben nicht weniger grauenhaft als einst durch deutsches Giftgas; der Krieg in Vietnam, der Überfall auf Kambodscha unterscheidet sich nicht von Hitlers Gepflogenheiten, in Griechenland und Dutzenden Ländern foltert man kunstgerecht wie dazumal in den Kellern der Gestapo, der Rassenmord in den USA, in Südafrika dauert an, der Antisemitismus in Polen, in der Sowjetunion ist in seiner sozialistischen Tracht so niederträchtig wie anderswo. […]
[D]ieser Welt der Gewalt, des Mißbrauchs, der Heuchelei hat Celan sich durch den Sprung in die Seine entzogen. Sinnesverwirrung? Weltverwirrung, der das Wort nicht standhält, vor der die Sprache kapituliert.

Nichts soll vereinfacht werden. Celan war nicht politisch engagiert. »Wir wissen ja nicht, weißt du, wir wissen ja nicht, was gilt«, sagte er in einem der großen Dichterin Nelly Sachs gewidmeten Gedicht. Doch sie beide wußten, der Jude und die Jüdin, daß immer noch ihr Verlorensein gilt, immer noch das Gesetz der Stärkeren, der Herrenrassen und Herrenklassen. […]

Mit der zunehmenden Sensibilität des Dichters und der immer massiveren Übermacht der Dinge, der Apparate, der Institutionen wurde der Bereich des in der Sprache des Gedichts noch Sagbaren, des noch in Dichtung Transformierbaren unaufhaltsam eingeengt. Ein mit Sprachmaterial, mit Wörtern und mit Silben, mit syntaktischen, semantischen, phonetischen Alternativen genügend gefütterter Computer wird bald imstande sein, Gedichte nach Bedarf zu liefern, […] tadellos konstituierte Sprachmuster, befreit von individueller Problematik, von jedem Rest unbequemer Humanität. Celan war das Gegenteil eines solchen Computers; bis zum Äußersten hat er versucht, die kaum mehr faßbare Wirklichkeit sich anzueignen, die von Bildern verhängte im »Welttakt« zu besingen.

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