Eine politische
Stammeskultur
von Ulrich Brand
In »Beim Sichten der Erbschaft« hat Hazel Rosenstrauch vor fast drei Jahrzehnten die Milieus kommunistischer Dissidenz in Wien untersucht.
In den Jahren nach 1990 kam ich aus privaten Gründen häufig nach Wien. In Erinnerung sind mir – neben Studiertagen in der Bibliothek der Hauptuni – intensive politische Diskussionen in der WG-Küche meiner damaligen Freundin, in der die Brüche nach 1989 facettenreich verarbeitet wurden. Niemand verteidigte auch nur im Entferntesten den gerade historisch werdenden autoritären Staatssozialismus, aber ich erinnere mich an die anti-utopische Grundstimmung dieser Tage. Und irgendwie fiel mir wohl 1993 ein Büchlein in die Hand, das mich – als jemand, der sich damals in sozialen Bewegungen und in der Redaktion der Zeitschrift links des Sozialistischen Büros politisch sozialisierte – tief beeindruckte.
Nach fast 30 Jahren habe ich es wieder gelesen und bin neuerlich hingerissen von dem, was Hazel Rosenstrauch in Beim Sichten der Erbschaft mit präzisem Blick darstellt. Rosenstrauch verbrachte Kindheit und Jugendjahre in einem kommunistischen Umfeld in Wien, ging nach der Matura für 20 Jahre nach Berlin, wo sie studierte und als Schriftstellerin und Publizistin arbeitete. Zurück in Wien war sie ab 1989 Redakteurin des Wiener Tagebuch (WTB), jenes publizistischen Projekts, um das sich nach dem Prager Frühling viele (Ex-)Kommunistinnen und Kommunisten politisch und intellektuell sammelten. Im Umfeld des WTB sollte sie »die alten Genossen, von deren Heldengeschichten meine Jugend umstellt war«, wieder treffen.
Beim Sichten der Erbschaft wird deutlich, dass und wie politische Orientierungen in den gesellschaftlichen und politischen Naheverhältnissen entstehen und wie historische Erfahrungen gerade hier verarbeitet werden. Rosenstrauch nennt das eine »politische Stammeskultur« – Verhaltensweisen, moralische Prinzipien und eine »kleinbürgerlich-proletaroide Ästhetik«. In den Gesprächen mit den damals, Anfang der 1990er Jahre, 70- bis 90-Jährigen wird deutlich, dass der Kommunismus für die Interviewten ein real existierendes System war, aber auch darüber hinaus gehende Ideale verkörperte. Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt und in die Emigration gezwungen wurden, bauten sich nach ihrer Rückkehr in Wien eine solidarische Welt auf. Immer wieder wird die Frage behandelt, wann und wie Distanzierungen zum Stalinismus erfolgten, welche Rolle für die Menschen die eigene Partei spielte. Und was Kommunismus und Kommunistisch-Sein eigentlich bedeutet. Der politische Alltagsverstand der Interviewten zeigt sich dabei bisweilen widersprüchlich.
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