Superspreader Kapitalismus

von Fabian Lehr

Illustration: Christoph Kleinstück

Die Hoffnung auf ein rasches Verschwinden der Covid-19-Epidemie hat sich zumindest in Mitteleuropa zerschlagen. In Österreich, Deutschland und der Schweiz gibt es wieder beunruhigend stark ansteigende Infektionszahlen.


997 wörter
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In Österreich, wo die Zahl der registrierten aktiven Infektionen im Juni zeitweise auf unter 400 gefallen war, hat sie sich im August wieder auf bis zu 1.600 vervierfacht. Weiter westlich, in Frankreich und Spanien, droht die Infektionslage erneut außer Kontrolle zu geraten. Jenseits des Atlantiks, in den USA, war sie seit März ohnehin nie unter Kontrolle. In der medialen Berichterstattung und den Äußerungen der Regierungen wird regelmäßig der Eindruck erweckt, schuld an dieser Entwicklung seien das unverantwortliche Freizeitverhalten der Bevölkerung und ihre zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber Abstands- und Social-Distancing-Regeln. Dramatische Bilder von Menschenmassen am Donaukanal, in Schanigärten und an Badeseen, unterlegt mit vorwurfsvollen Kommentaren, sollen suggerieren: Die Regierung tut aus rührender Sorge um unsere Gesundheit alles in ihrer Macht Stehende, um uns vor dem Virus zu schützen – aber leider scheitern alle Bemühungen an der Dummheit und Verantwortungslosigkeit der Menschen, die nach Feierabend machen, was sie wollen und all die weisen Regeln von Kurz, Anschober und Co. ignorieren. 

Der Haken bei diesem Narrativ liegt freilich darin, dass sich nach den bisherigen medizinischen Erkenntnissen die meisten Menschen viel eher vor Feierabend ansteckten, während Infektionen bei Freizeitaktivitäten unter freiem Himmel äußerst unwahrscheinlich sind. Wo traten in den letzten ein, zwei Monaten die größten Cluster neuer Infektionen in Europa auf? Am Arbeitsplatz, besonders in Branchen mit miserablen Arbeitsbedingungen, wo Menschen dichtgedrängt in geschlossenen Innenräumen schuften und oft auch leben müssen. Viel Aufsehen erregten beispielsweise die Massenausbrüche in diversen Schlachthöfen und fleischverarbeitenden Betrieben (allein bei Tönnies in Nordrhein-Westfalen gab es weit über 1.000 Infektionen), wo sich in elenden Baracken dicht an dicht hausende osteuropäischer Leiharbeiter massenhaft infizierten. Ähnliche Cluster traten in etlichen landwirtschaftlichen Betrieben auf, wo Saisonarbeitskräfte in ebenso beengten und unhygienischen Massenunterkünften zusammengepfercht wurden. Irgendwelche ernsten juristischen Folgen für die Betriebe, in denen es zu diesen Ausbrüchen kam, geschweige denn zu einer Änderung des Arbeitsrechts, um solche Arbeitsbedingungen unmöglich zu machen, gab es nicht. 

»UM DIE SCHÄDEN DES LOCKDOWN FÜR DAS EUROPÄISCHE KAPITAL ZU BEGRENZEN,AKZEPTIERT MAN,DASS DIE SEUCHE AUF NIEDRIGEREM NIVEAU ZIRKULIERT UND ES REGELMÄSSIG ZU NEUEN GRÖSSEREN AUSBRÜCHEN KOMMT.«

Diese Fälle werfen ein grelles Schlaglicht darauf, warum eine effiziente Seuchenbekämpfung im kapitalistischen Rahmen kaum möglich ist. Jeder bürgerlich-kapitalistische Staat hat in erster Linie die Funktion, seinem Kapital günstige Rahmenbedingungen für die Erwirtschaftung von möglichst großem Profit zu schaffen und für internationale Investoren ein attraktiver Standort zu sein. Würde man nun einfach bis zum Ende der Pandemie alle für die Verbreitung der Seuche besonders geeigneten Wirtschaftsbereiche schließen, würde man als Kapitalstandort unattraktiver werden. Gleichzeitig müssen die Staaten aber darauf achten, die Fallzahlen nicht wieder durch die Decke gehen zu lassen, denn ein massiver Wiederausbruch lähmt die Konjunktur noch stärker als ein teilweiser Lockdown. Also werden einige Seuchenschutzmaßnahmen aufrechterhalten, aber nur das absolute Minimum, das für eine Begrenzung der Infektionszahlen unabdingbar ist – man konzentriert sich dabei auf das Freizeitverhalten der Menschen statt auf die Situation am Arbeitsplatz, denn damit trifft man keine erstrangigen Teile der Wirtschaft. 

Ein ähnlicher Widerspruch zog sich durch den Lockdown auf dem Höhepunkt der Krise im März und April: Während die Menschen weiterhin gezwungen waren, täglich acht Stunden in vollen, geschlossenen Räumen zu verbringen und auf dem Weg dorthin in überfüllte öffentliche Verkehrsmittel zu steigen, war es ihnen etwa in Frankreich, Italien oder Spanien fast vollständig verboten, in ihrer Freizeit das Haus zu verlassen, selbst für medizinisch sehr risikoarme Aktivitäten im Freien. Den halben Tag mit hunderten oder tausenden Kolleginnen in vollen Großraumbüros oder Fabrikhallen zu stehen, war kein Problem. Darauf, nach Feierabend mit zwei, drei Freunden auf einer Wiese im Park zu sitzen, standen empfindliche Geldstrafen. 

Es ist die Logik der kapitalistischen Wirtschaft, die die Menschen dazu zwingt, sich während der Pandemie regelmäßig auf hochriskante Weise zu verhalten. Und es ist dieselbe Logik, die es achselzuckend hinnimmt, dass bei Tönnies oder Agrarbetrieben Menschen wie in Viehställen zusammengepfercht werden, um ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit die Profite des Konzerns zu sichern. 

Kein europäischer Staat hat ernstlich versucht, das Virus auszutrocknen, indem er alle nicht lebensnotwendigen Bereiche der Wirtschaft bis zu einem Rückgang der Infektionszahlen auf annähernd Null stilllegt. Stattdessen war das offiziell verkündete Ziel, das Infektionsgeschehen durch einen relativ kurzen Lockdown erst deutlich zu senken und dann auf einem Niveau zu halten, bei dem die Krankenhauskapazitäten nicht gesprengt werden. Sprich: Um die ökonomischen Schäden des Lockdown für das europäische Kapital zu begrenzen, akzeptiert man, dass die Seuche auf einem niedrigeren Niveau zirkuliert, endemisch wird und es regelmäßig zu neuen größeren Ausbrüchen kommt. Dies geschieht gerade im Großteil Europas, wo man das Wirtschaftsleben zu einem Zeitpunkt nahezu vollständig wiedereröffnet hatte, an dem die Zahl der registrierten aktiven Infektionen in den meisten Ländern noch deutlich höher war als zu dem Zeitpunkt, an dem im März die Lockdown-Maßnahmen in Kraft traten. Die staatliche Gesundheitspolitik im Kapitalismus stellt sich nicht die Frage »Was muss getan werden, um das Virus auszurotten?« Stattdessen stellt sie eine Kosten-Nutzen-Analyse an: »Ab welcher Dauer und Intensität der Seuchenschutzmaßnahmen behindern diese die Kapitalakkumulation unserer Unternehmen stärker, als ein Wiederanstieg der Infektionszahlen es tun würde?« Das ist der Punkt, an dem die Maßnahmen ihre Grenze finden: Wenn zu viele Lohnarbeiterinnen und Konsumenten von der Seuche getötet oder monatelang aufs Krankenbett geworfen werden, ist das schlecht für die Wirtschaft. Noch schlechter ist es aber, wenn die Stilllegung des Wirtschaftslebens dazu führt, dass die Mehrheit aller Arbeitskräfte und Konsumenten monatelang zu Hause sitzt. Und so wird, auf mal etwas höherem, mal etwas niedrigerem Niveau, weiter gestorben werden – zumindest bis zur Massenproduktion eines Impfstoffs

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