Am 28. November jährt sich der Geburtstag von Friedrich Engels zum 200. Mal. Dies ist der dritte und letzte Teil einer Serie, in der Wolfgang Häusler, emeritierter Universitätsprofessor für Österreichische Geschichte, an den Mitbegründer des Marxismus erinnert.
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Jüngere Leser stocken möglicherweise bei den Abkürzungen MEW und MEGA. Googelt man mew, erscheint zunächst der »Urvater der Pokémon«, wer oder was immer das sein mag … MEW – Marx-Engels-Werke, das war bis 1989 selbsterklärende Abkürzung für die in blauem Plaste-Einband erscheinende Ausgabe in 44 Bänden seit 1953, zackig preußisch in der Obhut des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Die Verpflichtung zur ausgiebigen affirmativen Zitierung der »Klassiker« einschließlich Lenin war allen Wissenschaftern in der DDR ernsthaft geraten – diese Pflichtübung geriet bisweilen weit hergeholt bis kurios. 1968 erwachte das Interesse an den Texten auch hierzulande, mit dem vielfältigen Protest der Studentenbewegung – und mit der Krise der Niederwerfung des ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ des Prager Frühlings durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten, durch den »Panzerkommunismus« (Ernst Fischer). Im sozialdemokratischen Jahrzehnt Bruno Kreiskys fand der Austromarxismus noch einen Nachhall. Die neomarxistische Debatte ging nicht zuletzt um das Verhältnis der Frühschriften von Marx zur strengen Observanz des Kapital. Bei Engels war dieses Problem so nicht gegeben – länger lebend, hat er seine eigenen Jugendwerke wie die Schriften des Freundes nach Jahrzehnten wiederholt neu ediert, mit oft sehr bezeichnenden Kommentaren.
Von eher schwierigen Reisen in die DDR konnte man die blauen Bände mitbringen, zum Preis von fünf Mark, auch in den Buchhandlungen von Prag oder Warschau bekam man sie, weiters in der Zentralbuchhandlung hinter dem Stephansdom. Ein Tipp: Wer zu kaufende Bücher vorher in die Hand nehmen will und nicht ungeschaut aus dem Internetversand bestellen möchte, findet ansehnliche Restbestände im Antiquariatskeller der Wiener Fachbuchhandlung des ÖGB-Verlags, Rathausstraße 21. Unter den neueren Erscheinungen seien exemplarisch die Engels-Biografien und -Werkinterpretationen von John Green (2008), Tristram Hunt (2012), Elmar Altvater (2015), Jürgen Herres (2018), Michael Krätke (2020) genannt. Autorenkollektive beim ZK der SED und der KPdSU verfassten Biografien, die bei kritischer Lektüre einiges Material zu bieten haben. Unübertroffen und unentbehrlich bleibt jedenfalls Gustav Mayers große Engels-Biografie – die Erstauflage von 1920 wurde 1933 eingestampft, das Buch des von den Nazis vertriebenen außerordentlichen Professors für die Geschichte der Demokratie und des Sozialismus (so etwas gab es seinerzeit) an der Berliner Universität wurde 1934 in Den Haag neu aufgelegt; Nachdrucke sind erschwinglich. Eine leistbare Investition ist vor allem die einbändige Ausgabe der Gesammelten Werke von Marx und Engels, vom Wiener Buchhändler Kurt Lhotzky (Köln: Anaconda 2016), beziehungsweise das Marx & Engels Handbuch. Ein Vademekum über ihr Leben und Werk von dem 2018 verstorbenen marxistischen Historiker Hans Hautmann (Wien: Globus 2016). Eine gültige Marx-Engels-Doppelbiografie, im ursprünglichen Sinn Plutarchs, bleibt ein Desiderat – die notwendige Parallellektüre, die sich der Leser selbst erarbeiten muss, erschließt kritische Einsichten.
Die Marx-Engels-Gesamtausgabe evoziert schon mit ihrem abgekürzten Titel MEGA Größe, ihr Textcorpus ist wohl im TERA-Bereich zu messen. Der Herausgeber David B. Rjasanow (Goldendach) aus Odessa erhielt als Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau 1924 den Auftrag vom V. Weltkongress der Kommunistischen Internationale. Vor dem Weltkrieg lebte der gelehrte Forscher mehrere Jahre in Wien, er hatte intensive Kontakte zu österreichischen und deutschen Sozialisten, und hörte bei Carl Grünberg – in seinem Selbstverständnis als Marxist blieb er Gegner der bolschewistischen Parteispaltung. Die erste Serie der MEGA wuchs zwischen 1927 und 1940 auf 14 Bände an. Rjasanow, der Stalins Parteikurs zur Diktatur nicht mitmachte und Eingriffe in seine Arbeit ablehnte, wurde 1931 nach Saratow an der Wolga verbannt und dort am 21. Jänner 1938 Opfer des Großen Terrors, als »Trotzkist« erschossen. Gegenüber von Saratow liegt die Stadt Engels, gegründet als Pokrowskaja Sloboda unter Zarin Katharina II. wie die wolgaaufwärts gelegenene Stadt Marx als Zentrum deutscher Siedler, die 1924 eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik erhalten hatten. Ihre Hauptstadt wurde in Engels umbenannt. Die Wolgadeutschen hatten schon im Bürgerkrieg schwer zu leiden, als ihnen im Zug des Ringens um Zarizyn, das spätere Stalingrad, die Ernte abgenommen wurde. 1941 wurden sie Opfer der Stalin’schen Umsiedlungspolitik. 1961 landete der erste Mensch im Weltraum, Juri Gagarin, in der Nähe von Engels. Heute erinnert nicht nur ein Denkmal von Friedrich Engels, sondern ein 2011 errichtetes Mahnmal für die Deportierten an die tragische Geschichte der Menschen dieser Stadt.
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