Abstieg vom
Arbeiterberg
von Moritz Ablinger
Fotos: Christopher Glanzl
Der deutsche Lkw-Hersteller MAN will sein Werk in Steyr stilllegen. 2.500 Arbeitsplätze sind in Gefahr. Die oberösterreichische Industriestadt kämpft um ihre Identität und ihre Existenz – nicht zum ersten Mal.
Um die 200 Menschen stehen auf dem Steyrer Stadtplatz. Die Gewerkschaft PRO-GE hat einen Lastwagen abgestellt, dessen Ladefläche als Bühne dient. Der Bürgermeister ist schon da und vertritt sich die Beine. Es ist 12 Uhr Mittag, ein kalter Tag Mitte Oktober. Eine halbe Stunde später beginnt der Kampf. Die Belegschaft von MAN, des deutschen Lkw-Herstellers, zieht auf dem Platz ein. Sie hält einen Warnstreik ab. Je länger ihr Einzug dauert, desto enger wird es. Am Schluss sind 4.000 Leute da, der Großteil davon Mitarbeiterinnen von MAN, aber auch Pensionisten, Betriebsräte anderer Steyrer Betriebe, Frauen und Männer, die ihre Solidarität zeigen wollen.
Erst spricht Bürgermeister Gerald Hackl, dann der Arbeiterbetriebsratsvorsitzende Erich Schwarz und sein Kollege für die Angestellten, Thomas Kutsam. Auch die SPÖ-Bundesvorsitzende Pamela Rendi-Wagner und der ÖVP-Wirtschaftslandesrat Markus Achleitner ergreifen das Mikrofon. Die Stimmung ist kämpferisch, jedes Mal, wenn das MAN-Management erwähnt wird, ertönt ein gellendes Konzert aus Hunderten Trillerpfeifen und Tröten. Alle hoffen, die Konzernspitze doch noch umstimmen zu können. Die Kundgebung richtet sich gegen die Schließung des MAN-Betriebs in Steyr, die die deutsche Konzernspitze im September angekündigt hat.
»Nach 100 Jahren ist nicht Schluss« steht auf dem Transparent, das auf der Rückwand der Lkw-Ladefläche hängt. So lange schon werden in Steyr Lastwägen gebaut. Die Stadt war Oberösterreichs erste Industriestadt. Bereits im Spätmittelalter wurde hier Erz, das auf zwei Flüssen aus der Obersteiermark in die Stadt transportiert wurde, weiterverarbeitet. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand mit der Österreichischen Waffenfabriks-Gesellschaft einer der größten Rüstungskonzerne Europas. Ein Denkmal im Stadtzentrum erinnert an den Gründer des Unternehmens, Josef Werndl. Die Geschichte Steyrs ist aber nicht nur die einer Industriestadt. Sie handelt auch von verlorenen Kämpfen, errungenen Kompromissen und einer Arbeiterklasse im Wandel.
Am Stadtplatz mit seinen Barockfassaden und dem Blick auf etliche Kirchen erkennt man nicht viel von dieser Tradition. Man muss sie andernorts suchen. Am Arbeiterberg zum Beispiel. Er beginnt gegenüber vom großen Werkstor der MAN. Am Arbeiterberg gibt es die Arbeiterstraße. Die Namen stammen aus jenen Zeiten, als sich die Arbeiterinnen hier noch zu Tausenden auf den Weg machten. Heute sind es nur mehr ein paar Dutzend, die nach einer Schicht nach Hause gehen. Sie wohnen oben, dort, wo die Arbeiterstraße flach wird und sich die Mehrfamilienhäuser des Stadtteils Ennsleite aneinanderreihen. An vielen der Häuser ist das alte Emblem der Steyr-Werke zu sehen.
Auch an jenem, in dem Waltraud Hrubes wohnt. Sie hat den Großteil ihres Lebens auf der Ennsleite verbracht. »Früher haben hier fast alle im Werk gearbeitet«, sagt sie. Ihr Mann war Arbeiter, sie selbst hat knapp 25 Jahre als Angestellte in der Werksdirektion gearbeitet. »Heute schauen sie im Werk nur mehr aufs Geld«, sagt die 84-Jährige. »Früher ist es sozialer zugegangen.« Den ersten Urlaub konnte sie sich nur dank des Werks leisten. Mit 27 Jahren, 1964 war das, war Hrubes das erste Mal überhaupt im Ausland, in Caorle. Der Betriebsrat bot dort in Zusammenarbeit mit der Werksleitung günstige Ferienappartments an. Die Wohnhäuser auf der Ennsleite, auf denen man das runde Logo sieht, haben einmal den Steyr-Werken gehört. Darin wohnten die Beschäftigten zu verhältnismäßig günstigen Preisen. Die Kohle für den Ofen bekamen sie vom Werk, als Teil ihres Lohns. »Als ich ein Kind war, war es in unserer Wohnung im Winter so kalt, dass die Fenster mit einer Eisschicht überzogen waren«, sagt Hrubes. »Die Werkswohnungen waren ein echter Fortschritt.«
Hrubes erzählt von den großen Jahren der österreichischen Sozialpartnerschaft. Die Gehälter werden höher. 1973 beispielsweise steigen die Kollektivvertragslöhne der Metallerinnen um 17,4 Prozent, auch in den zwei Folgejahren sind die Steigerungen zweistellig. Zwar frisst die Inflation einen Teil des Gehalts auf. Unter dem Strich bleibt den Beschäftigten aber ein Lohnzuwachs von knapp zehn Prozent. Zudem verringert sich die Arbeitszeit. Zwischen 1959 und 1975 sinkt sie schrittweise von 48 auf 40 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. Knapp 10.000 Menschen arbeiten in den 1960er und 1970er Jahren bei Steyr-Daimler-Puch. Sie bauen Lkw, Traktoren, Autos, Räder, Motoren und Panzer.
Die politischen Verhältnisse sind stabil. Bei den Gemeinderatswahlen 1967 erhält die SPÖ in Steyr zwei Drittel der Stimmen, auch bei den drei folgenden sind es immer über sechzig Prozent. Neben ÖVP und FPÖ hält sich auch die KPÖ im Gemeinderat. Bei den ersten Wahlen nach dem Krieg bekommt sie zwölf Prozent der Stimmen, danach werden es sukzessive weniger. Doch bis 1991 hat sie zumindest immer ein Mandat.
Fast zwanzig Jahre lang hatte das Otto Treml inne. Von 1971 bis 1990 gehörte er dem Gemeinderat an, von 1981 bis 1990 war er Landesvorsitzender der Partei in Oberösterreich. Das Büro, in dem er sitzt, ist jenes, in dem er damals arbeitete. Nichts an der Fassade des Hauses weist auf die KPÖ hin, nur an der Eingangstür zum Büro im zweiten Stock klebt ein ausgeblichenes Pickerl. Doch in den Räumlichkeiten, die knapp 30 Quadratmeter groß sind, weiß man sofort, wo man sich befindet: Zwei Porträts, eines von Karl Marx, das andere von Lenin, hängen an der Wand, daneben die von sieben früheren KP-Funktionären. Einige von ihnen wurden von den Nazis getötet, wie Karl Punzer, der in den Steyr-Werken arbeitete und nach dem »Anschluss« Österreichs Bezirksobmann der Steyrer KPÖ wird. 1942 wird Punzer in Steyr verhaftet, 1944 in München hingerichtet.
Einst gehörte das ganze Haus der KPÖ, ihre Funktionärinnen hielten hier Sprechstunden ab und druckten Zeitungen, darunter das Parteiblatt Vorwärts und die Zeitung des kommunistischen Betriebsrates in den Steyr-Werken, den Steyrer Werksarbeiter. Heute ist Treml 90 Jahre alt, sein weißes Haar ist zu einem Seitenscheitel gekämmt, er trägt ein kariertes Sakko. »Ich weiß nicht, ob MAN wirklich zusperrt«, sagt Treml. »Aber es würde mich nicht überraschen. Kapitalistischen Unternehmen geht es doch nur um den Profit.« In Nostalgie verfällt er nicht. Er weiß, wie hart erkämpft die hohen Lohnabschlüsse der 1960er und 1970er waren. Und er hat erlebt, wie vehement die Direktion der Steyr-Werke, als sie noch so hießen, gegen ihre Beschäftigten vorgingen.
Es war im Herbst 1950, in der Zeit vor den Kollektivvertragsabschlüssen. Lohn-Preis-Abkommen hießen die Vorgänger. Jährlich wurden sie in den ersten Nachkriegsjahren von Arbeiterkammer und vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) auf Arbeitnehmerinnenseite sowie von Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer auf Arbeitgeberinnenseite neu verhandelt. Sie regelten gesamtstaatlich die Entwicklung der Löhne und Preise. Von Beginn an aber hinkten die Gehaltssteigerungen hinterher, der Unmut unter den Arbeiterinnen war groß.
1950 schlägt der Ärger in Widerstand um. Zum wiederholten Male steigen die Preise für Mehl und Semmeln jeweils um gut 60 Prozent, die Gehälter aber nur um 14. Als der ÖGB am 25. September dem Pakt zustimmt, stehen noch am selben Nachmittag die Räder in der Linzer VÖEST still. Für eine Stunde treten die Arbeiterinnen in einen Warnstreik. Auch in den Steyr-Werken werden die Betriebsrätinnen noch am 25. September aktiv. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsfraktion, die mit ihren 14 Betriebsräten die Mehrheit stellt, mobilisiert ebenso wie die kommunistische, die mit acht Mandaten die zweitgrößte Fraktion im Betrieb ist. Otto Treml gehört zu den Kommunisten. »Wir sind durch das ganze Werksgelände getourt«, sagt er. »Ich habe mich auf Holzkisten gestellt, agitiert und erklärt, warum wir das nicht hinnehmen können. Ein bisschen habe ich mich wie Lenin gefühlt.«
Die Mobilisierung wirkt. In den Steyrer-Werken wird am nächsten Tag nicht gearbeitet, fast die gesamte Belegschaft demonstriert. Sie zieht am nächsten Vormittag zum Stadtplatz. Tausende erwarten sie dort, davon viele Beschäftigte aus den kleineren Betrieben Steyrs. Insgesamt protestieren 16.000 Menschen gegen das Abkommen.
Der Streik in den Steyr-Werken beginnt mit der Demonstration erst. Die Belegschaft denkt nicht daran, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Die Organisation des Streiks teilen sich die Betriebsräte auf. Treml ist für die Streikposten verantwortlich. Er kümmert sich darum, dass niemand den Streik bricht und keine unbefugten Personen das Werksgelände betreten. »Nirgends war der Streik so konsequent wie bei uns«, sagt er. »Wir haben ihn auch straff organisiert.« In Linz streiken die städtischen Bediensteten ab dem 26. September, der öffentliche Verkehr kommt zum Erliegen. Zum Höhepunkt der Bewegung streiken Ende September knapp 170.000 Arbeiterinnen, über ein Drittel davon in Oberösterreich.
Die Behörden gehen mit voller Härte dagegen vor. Die Exekutive dringt in bestreikte Betriebe vor und zwingt die Aktivistinnen zur Aufgabe. Der Sekretär der Gewerkschaft Bau-Holz, Franz Olah, rüstet knapp 2.000 seiner Mitglieder mit Schlagstöcken und Lastwägen aus, um gegen die Streikenden vorzugehen. Der ÖGB und die Regierung bezichtigen die Arbeiterinnen eines Putschversuchs, sie seien von der sowjetischen Besatzungsmacht gesteuert. Auch die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung nennt die Bewegung »kommunistische Streikhetze«, unterstellt den Aktivistinnen terroristische Methoden.
Die Repression zeigt Wirkung. Die Streiks fallen in sich zusammen, schon am 28. September fahren in Linz die Straßenbahnen wieder. Am 1. Oktober beschließen die Arbeiterinnen in der VÖEST, den Streik auszusetzen. Auch in den Steyr-Werken wird am 2. Oktober über die Fortsetzung abgestimmt. Fast 4.000 Beschäftigte, knapp 70 Prozent, stimmen trotz allem dafür, weiter zu streiken. »Wir wollten nicht einknicken«, sagt Treml. »Das Ergebnis war ein großer Erfolg.« Während fast überall wieder gearbeitet wird, marschieren die Steyrer Arbeiterinnen am 4. Oktober noch einmal auf den Stadtplatz. Die B-Gendarmerie, eine Vorgängerorganisation des Bundesheeres, hält das Rathaus schon besetzt. Auf den Straßen verteilen Sozialdemokratinnen Flugblätter der Werksdirektion – zu lesen steht darauf, dass jeder, der auch am nächsten Tag noch streikt, entlassen wird.
Am selben Tag schlagen die kommunistischen Betriebsrätinnen vor, den Streik am nächsten Morgen im Rahmen einer Betriebsversammlung zu beenden. Doch so weit kommt es nicht. Am Abend dringt die B-Gendarmerie in die Steyr-Werke ein. »Sie sind mit Stahlhelmen und Bajonetten gekommen«, sagt Treml, der sich damals in der Streikleitung im Werksinneren befindet. »Die, die sie als Rädelsführer identifiziert haben, haben sie festgenommen.« Reihenweise werden sie danach entlassen. Bei Treml dauert es zwei Jahre, dann wird auch er hinausgeschmissen. »Im Blauen Brief stand, dass sie mir für meine Arbeitsleistung danken«, erinnert er sich. »Mich hat diese Verlogenheit so zornig gemacht.« Auch seine Werkswohnung auf der Ennsleite muss er räumen.
Bis zu 400 Arbeiterinnen und Angestellte, denen eine Nähe zur Streikbewegung unterstellt wird, verlieren in den drei Jahren nach dem Oktoberstreik ihren Job in den Steyr-Werken. Die meisten von ihnen tun sich schwer, anderswo in Steyr Arbeit zu finden. Die Sozialdemokraten machen Druck auf kleinere Betriebe, sie nicht einzustellen. Der ÖGB schließt 78 Funktionärinnen wegen ihrer Nähe zur Streikbewegung aus. Erst 2015 entschuldigt sich ÖGB-Präsident Erich Foglar für das Vorgehen der Gewerkschaft im Herbst 1950 und die Lüge, es habe sich dabei um einen kommunistischen Putschversuch gehandelt.
Treml hat Glück. Die KPÖ stellt ihn als Bezirkssekretär an, wohnen kann er zunächst auf einem parteieigenen Bauernhof. Später zieht er mit seiner Familie in die Johannesgasse, wo sich das Büro der Partei befindet. Bis 1990 bleibt Treml Angestellter der KPÖ. Dann geht er in Pension. Es ist die Zeit, in der sich nicht nur in Steyr die Welt verändert, die Erinnerungen an Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die im großen Stil staatliches Eigentum und die öffentliche Daseinsvorsorge privatisieren und viele Industriebetriebe gleich ganz abwickeln, sind jung.
Auch in Österreich schlittert die staatliche und staatsnahe Industrie Ende der 1970er in die Krise. Steyr-Daimler-Puch, wie die Steyr-Werke damals heißen, ist da schon auf staatliche Zuschüsse angewiesen. Nur dank Subventionen kann der Konzern noch schwarze Zahlen schreiben, Lieferungen an Militärdiktaturen in Chile und Argentinien rechtfertigt die Werksdirektion mit der kargen Auftragslage. Erst nach massiven Protesten stoppt Bundeskanzler Bruno Kreisky die Exporte des Unternehmens, das der staatlichen Creditanstalt gehört. Immer präsenter wird das Schreckgespenst der Privatisierung, der Ausverkauf in eine ungewisse Zukunft. Als 1986 SPÖ-Kanzlerkandidat Franz Vranitzky für eine Wahlkampfveranstaltung nach Steyr kommt, stehen 8.000 Menschen auf dem Stadtplatz, 4.000 von ihnen sind Metallarbeiterinnen, die gegen die Privatisierung protestieren. »Herr Kanzler, unsere Geduld ist zu Ende, wir fordern eine Unterstützung!« und »Arbeit her« ist auf ihren Transparenten zu lesen.
Die Angst geht um, Steyr könnte dasselbe Schicksal erleiden wie die ruinierten Industriestädte Nordenglands – oder noch schlimmer: Es könnte wieder so werden wie Anfang der 1930er. Damals trifft die Weltwirtschaftskrise Steyr mit voller Wucht. Im September 1929 hat das Unternehmen nicht mehr genug Geld, um die Fließbänder am Laufen zu halten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs ist die Österreichische Waffenfabriks-Gesellschaft, wie der Vorgänger der Steyr-Werke hieß, mit 15.000 Beschäftigten das größte Rüstungsunternehmen Europas gewesen. Doch ohne den Krieg und die kaiserliche Armee fällt dem Konzern der wichtigste Geschäftszweig weg. Die Autoproduktion ist nicht ansatzweise so profitabel. In einer Stadt, die derart von der Industrie abhängig ist, hat das katastrophale Folgen. Knapp die Hälfte der Menschen in Steyr ist Anfang der 1930er Jahre arbeitslos, die Gemeinde beschließt die Straßenbeleuchtung einzusparen und die öffentliche Verwaltung auf ein Minimum zu reduzieren. Die linke Wochenzeitung Der Kuckuck widmet der Stadt im Jänner 1932 eine Reportage mit dem Titel: »Steyr stirbt«. »Das Auto verdrängt die Eisenbahn, täglich lesen wir Lobeshymnen auf den ›Siegeszug des Benzinmotors‹, aber die Automobilstadt geht zugrunde. Man braucht sie nicht, es gibt keinen Absatz für ihren Fleiß«, heißt es darin.
Doch Steyr stirbt nicht, die Fusion mit anderen österreichischen Automobilkonzernen zu Steyr-Daimler-Puch rettet das Unternehmen; die Kriegsindustrie der Nazis lässt es wieder groß werden. Auch die Filettierung ab den späten 1980ern bringt die Steyrer Industrie nicht um. Das Unternehmen wird zerschlagen, die weniger profitablen Unternehmensteile stillgelegt. Doch für den Großteil der Produktionsstätten finden sich namhafte Käufer. 1988 kauft der schwedische Multi SKF das Kugellagerwerk des Unternehmens, im Jahr darauf übernimmt MAN die Lkw-Fertigung im Hauptwerk. »In memoriam, Steyr-LKW« steht auf der Titelseite des Steyrer Werksarbeiter damals. Sie ist im Stile eines Partezettels gehalten.
Doch wieder sind die Nachrichten vom Ableben verfrüht. Nach den ersten Verkäufen siedeln sich im Laufe der 1990er die Zulieferer Magna und ZF am Gelände des Hauptwerks an, schon 1979 kam BMW nach Steyr. Die Konzerne erhalten die gut bezahlten Arbeitsplätze in Steyr, fast 10.000 Menschen sind heute am Standort beschäftigt. Für die Lehrwerkstätte haben sich die Betriebe zusammengeschlossen. Jedes Jahr nehmen sie 100 Lehrlinge auf.
Die Zuneigung der Industrie ist freilich teuer erkauft. Als sich BMW ansiedelt, investiert der Konzern knapp fünf Milliarden Schilling in die Errichtung und Erneuerung der Produktionsstätten. Ein Fünftel davon zahlt die öffentliche Hand. Ohne die Förderung wäre BMW nicht nach Steyr gekommen. Als MAN zehn Jahre später nach Steyr kommt und das Werk modernisiert, zahlen Stadt, Land und Bund gemeinsam über 15 Prozent der Investitionssumme – immerhin knapp 350 Millionen Schilling. 2017, als sich der LKW-Hersteller dafür entscheidet, zehn Millionen Euro in die Entwicklung von E-Motoren in Steyr zu stecken, schießt der Staat ein Drittel zu.
Auch deswegen ist die Stimmung beim Warnstreik am Stadtplatz relativ optimistisch. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass MAN wirklich zusperrt. Immer wieder strukturierte das Unternehmen in den letzten Jahren um, es kämpft seit Jahren mit einer fluktuierenden Auftragslage und der ungewissen Zukunft der Automobilbranche. Der Mutterkonzern VW, dem zwei Drittel von MAN gehören, hat sich vom Dieselskandal noch nicht erholt. Immer wieder war in den letzten Jahren von einer Entlassungswelle die Rede, immer wieder konnte sie in Steyr abgewendet werden. So drastisch wie diesmal war die Drohkulisse allerdings noch nie. »Ich schäme mich für diese Manager«, sagt Betriebsratschef Erich Schwarz am Stadtplatz.
Das Ringen all dieser Jahre ist dennoch nicht spurlos an Steyr vorbeigegangen. »Irgendwann haben die, die besser verdient haben, angefangen, wegzuziehen«, sagt die Ennsleitnerin Waltraud Hrubes. »Mit den Ingenieuren hat es angefangen.« Hrubes weiß das, weil sie jahrelang für die SPÖ Mitgliedsbeiträge kassiert hat und deswegen von Wohnung zu Wohnung gegangen ist. Auch der Siegeszug des Autos hat sein Übriges dazu beigetragen: Während die meisten noch bis Anfang der 1970er zu Fuß ins Werk gingen und von der Nachbarschaft der Ennsleite profitierten, stehen heute auf den Werksparkplätzen Autos mit Kennzeichen aus ganz Oberösterreich und dem angrenzenden Niederösterreich.
Die Häuser, an denen das Logo der Steyr-Werke prangt, gehören auch nicht mehr dem Werk. Im Zuge der Privatisierung kaufte sie zunächst die Magna von Frank Stronach. Anfang der 2000er Jahre verkaufte der sie an das private Immobilienunternehmen Wohnbau 2000 weiter. »Die Miete steigt ständig«, sagt Hrubes. »Es war schon einmal besser, hier zu leben.«
Auch Angelika Paulitsch, die die Pfarre in der Nachnarschaft leitet, erkennt Veränderungen im Stadtteil. »Die typische Ennsleitnerin ist heute die alleinerziehende Mutter, die im Einzelhandel arbeitet«, sagt sie. »„Nur mehr ein kleiner Teil der Pfarrangehörigen arbeitet heute im Werk.« Dennoch sei die Debatte um die Werksschließung Thema – in der Pfarre und im Stadtteil. Paulitsch hat darauf reagiert. An der Kirche, direkt an der Arbeiterstraße, hat die Gemeinde ein selbstgemaltes Spruchband angebracht: »MAN-Beschäftigte: Wir sind mit euch solidarisch!«
Am Ende unseres Gesprächs wird Otto Treml von einem KPÖ-Genossen im Stiegenhaus gegrüßt. »Hast du wieder die alten Geschichten erzählt?«, fragt der und grinst. Tremls Erwiderung kommt ohne Grinsen aus: »Das sind keine alten Geschichten.«
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