Habsburg Futurism
von Johannes Kaminski
EUR 26,00 (AT), EUR 26,00 (DE), CHF 33,40 (CH)
Anlässlich des derzeitigen Katastrophenjahrs legt der Luftschacht Verlag ein vergessenes Werk der utopischen Literatur auf: Österreich im Jahre 2020, verfasst von Josef von Neupauer. Der 1893 publizierte Roman überrascht mit einer kühnen These: Eine Welt ohne Eigentum und Krieg ist denkbar, nur keine ohne Kaiser.
In diesem fiktionalen Reisebericht wird Österreich 2020 weder von Pandemie noch Kinderkanzler heimgesucht, stattdessen wird das 19. ins 21. Jahrhundert hinein verlängert. Streckenweise erinnert das an Ernest Callenbachs öko-utopischen Klassiker Ecotopia (1975): Technologische Entwicklungssprünge bleiben aus und werden nicht sonderlich vermisst. Die Bevölkerung arrangiert sich mit einer Welt, die aus dem Überfluss der alten hervorgegangen ist. Eine Gruppe amerikanischer Forschungsreisender tritt an, diese sonderbare Welt zu erkunden. Die Bewohner des Musterstaats haben nicht allein dem Tabakkonsum, sondern auch festem Besitz abgeschworen. Sie meiden Gottesdienste und pilgern in öffentliche Bibliotheken. Auch mit der Ständeklausel ist es vorbei. Inzwischen dürfen sich kerngesunde Männer aus dem Volke mit Prinzessinnen verloben, die sie mit Treueschwüren empfangen: »Ich opfere dir meine Gottheit auf und mache dadurch dich zu meinem Gotte!«
Im Zuge dieser habsburgischen Weltrevolution der Seele sind alle Menschen Geschwister geworden. Man achtet auf Höflichkeit und verzichtet auf Gewaltanwendung. Dem österreichischen Beispiel folgend,
übertreffen sich die europäischen Nachbarstaaten in Pazifismus und schaffen ihre nationalen Militärs ab. Noch beschränkt sich diese neue Regierungsform auf Europa, bald soll sie sich über ganz Eurasien erstrecken. Und dies ist den historischen Leistungen eines einzigen Mannes zu verdanken, nämlich Kaiser Franz Josefs … des Standhaften!
So beschaulich sich dieses Neo-Habsburgerreich anlässt, offenbart Neupauers Text allerhand dystopisches Potenzial. Beim näheren Hinsehen fühlt man sich an Gilead erinnert, die grausame Welt aus Margaret Atwoods Handmaid’s Tale (1985). Was theoretisch als Kommunismus bezeichnet wird, erweist sich in der Praxis als konsequent top-down gelenkte Staatsform. Der amtierende Kaiser bittet das Volk zwar regelmäßig an die Urnen, lässt sich zu dieser Gelegenheit aber ausschließlich die allgemeine Zufriedenheit mit der bestehenden Ordnung bestätigen. Während das Reich weiterhin über die territoriale Ausdehnung Altösterreichs verfügt, sehen die Forschungsreisenden von Expeditionen in den Völkerkerker östlich der March ab. Dem Leser steigt ein Verdacht auf: Um sich unliebsame Entdeckungen zu ersparen!
Die freiwillige Unterordnung der Herrschaftssubjekte gerät bei der Frauenfrage noch deutlicher in die Schieflage. Seit der vollständigen Emanzipation, wird erklärt, beschränke sich die weibliche Bevölkerung freiwillig auf Heim und Herd. Ferner seien nur »gesunde« Mädchen zur Ehe zugelassen, den übrigen aber würden die Haare geschoren. Solche Kinderlosen übernehmen – »gerne«, es versteht sich – niedere Tätigkeiten in der Gesellschaft. Wer sich daran nicht hält, wird in ein Büßergewand gesteckt oder in ostafrikanische Kolonien verschickt. Es schallt von allen Lippen: »Habsburg, hoch!«
Österreich im Jahre 2020, neu entdeckt von Tobias Roth, erscheint mit einer programmatischen Covergestaltung von Matthias Kronfuß: Jugendstil trifft auf Stalinismus. Diese kakanische Utopie führt vor, wie sich die Gedankenwelt der Wiener Gründerzeit aus den Unterdrückungsmechanismen speist, die sie anklagt – und im selben Atemzug reproduziert. Die Apotheosen der weltlichen Liebe und der Brüderlichkeit dürfen, ja sollen folgenlos bleiben. Daraus ergibt sich ein unerwarteter Ausblick auf unser miserables 2020: Eine Welt ohne Kaiser ist selbstverständlich geworden, doch weiterhin keine ohne Eigentum und Krieg.
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