Erich Fried, der in den späten 1970er Jahren mit seinen Liebesgedichten zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Lyriker werden sollte, intervenierte in den 1960er Jahren vorrangig mit neuen Formen der politischen Lyrik. Diese war, wie man sagt, »umstritten«, galt dem Nachkriegsbildungsbürgertum als plump und wenig literatursalonfähig. Der 1966 beim Verlag Klaus Wagenbach erschienene Band Vietnam wurde im großen Feuilleton dementsprechend ignoriert, war aber unter politisch engagierten Lesenden ein Erfolg. In diesem Aufsatz für das Tagebuch räsoniert Fried über diese Mischung aus Beschweigen und Resonanz, indem er – von Vietnam ausgehend – eine klassische wie aktuelle Frage bedenkt: Wie mit unerträglichem Unrecht gegen Menschen umgehen – auch wenn es nicht direkt zu betreffen scheint?
Erich Fried
Vietnam und was wir denken
»Ich will von Denkmustern unserer Zeit sprechen. Beginnen wir mit einem einfachen Satz: ›In Vietnam werden mit Napalm Kinder verbrannt. In Vietnam werden mit Napalm Kinder verbrannt.‹ Wenn das ausgesprochen wird, antworteten viele laut – oder leise, für sich –: ›Warum sagt man uns das immer wieder? Das wissen wir doch schon ganz genau.‹ Aber die Frage ist: Wissen sie es wirklich ganz genau? Die Frage ist: Was nennen wir für gewöhnlich Wissen?
[…]
Wir alle wissen, daß in Vietnam mit Napalm Kinder verbrannt werden, aber bei wie vielen von uns ist das nur angelerntes Wissen? Bei wie vielen von uns ist es ein Wissen, das registriert wurde und das uns schon mit dem Kopf nicken und blasiert werden läßt, ohne daß es je Folgen in uns hatte?
[…]
Das Von-sich-Fortschieben von Problemen ist an sich nichts Unmenschliches oder Verächtliches. Wir könnten es nicht ertragen, uns auch nur annähernd vorzustellen, was alles an einem einzigen Tag in einem einzigen halbwegs großen Krankenhaus geschieht; gar nicht zu reden davon, was an einem einzigen Tag in einem ganzen Land geschieht, wie in Vietnam – oder in Bolivien. Wer weiß, was Unruhe ist, der kann jeden verstehen, der sagt: ›Ich will meine Ruhe haben.‹ Die Frage ist nur, welche Ruhe wir schließlich finden, wenn wir das sagen.
Das ist nicht eine Frage der Moralisierung, sondern – leider – eine von Grund auf praktische Frage. Nie noch war das Ineinandergreifen der Ereignisse in aller Welt deutlicher erkennbar.
[…]
Aber gerade hier, an diesem Punkt und in diesem Augenblick, zeigt es sich, daß das Schicksal Vietnams von unserem eigenen Schicksal gar nicht mehr zu trennen ist und daß wir uns, wenn wir uns gegen diese Abstumpfung durch Vertrautheit mit dem Grauen wehren (das gleichwohl weiterwirkt und weiterwächst), nur unserer eigenen Haut wehren.
[…]
Deshalb ist es so unendlich wichtig, die vielfache Verzahnung, das Ineinandergreifen der Antagonismen in aller Welt zu verstehen. Deshalb stehen wir für unsere Zukunft ein, wenn wir für Vietnam einstehen, und zugleich für die Zukunft unseresgleichen in aller Welt, in Südafrika, in Ägypten und Israel, in Bolivien und Guatemala – und für die Zukunft der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, ob schwarz oder weiß[.]«
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