Ausweitung der Grauzone

von Benjamin Opratko

Illustration: LEA BERNDORFER

Der dschihadistische Terror zielt auf die Vernichtung der Vielfalt. Die österreichische Bundesregierung spielt ihm dabei in die Hände.


1018 wörter
~5 minuten

Es war dem ORF-Korrespondenten Karim El-Gawhary vorbehalten, noch in der Nacht des Anschlags vom 2. November in Wien, von Kairo aus hellsichtig in die anlaufende Debatte zu intervenieren. Während die Kloakenmedien der Fellners und Dichands Videos verblutender Opfer als Snuff-Porno in Dauerschleife sendeten und der ORF vergeblich versuchte, den Bundeskanzler staatstragend in Szene zu setzen, warnte El-Gawhary auf Twitter davor, in die Falle des sogenannten Islamischen Staats (IS) zu tappen. Er erinnerte an etwas, das angesichts der verstörenden Szenen in der Inneren Stadt unterzugehen drohte: dass dem scheinbaren Wahnsinn des Täters eine brutal kalkulierende Rationalität zugrunde liegt. Diese Rationalität muss nicht spekulativ ergründet werden. Sie wird von ihren Vertretern, den Anstiftern und Brandstiftern des Dschihadismus, bereitwillig offengelegt. Der IS publiziert mit Dabiq ein aufwändig gestaltetes, monatlich erscheinendes Onlinemagazin für ein internationales Publikum, ähnlich übrigens wie al-Qaida mit Inspire. El-Gawhary jedenfalls wies darauf hin, dass das erklärte Ziel der Täter, formuliert in einem 2015 in Dabiq veröffentlichten Manifest, darin besteht, die Polarisierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa zu verstärken. In den Worten der Dschihadisten geht es darum, die »Grauzone« zu vernichten. Gemeint ist damit das Zusammenleben ganz verschiedener Menschen, in ihrem Bild: Gläubiger und Ungläubiger. 

Die Wortwahl verrät ein destruktives, im Kern lebensfeindliches und apokalyptisches Programm, das die Welt in Licht und Dunkel, Schwarz und Weiß teilen will und den Horror vor Vermischung nicht zufällig mit einer langen europäischen Tradition rassistischer Reinheitsphantasmen gemeinsam hat. Der Vernichtungswille des Dschihadismus richtet sich gegen die Grauzone nicht nur als Metapher für die Koexistenz von Muslimen und Nicht-Muslimen, sondern gegen das Uneindeutige und Unübersichtliche schlechthin. Dies nota bene in regressiver Umkehrung dessen, wofür islamische Kultur, wie der Islamwissenschafter Thomas Bauer (Kultur der Ambiguität) eindrücklich nachgewiesen hat, über Jahrhunderte stand und in manchen ihrer Traditionslinien bis heute steht: einer hohen Ambiguitätstoleranz. 

»WER VIELFALT NUR VERTEIDIGT, WENN SIE SICH ALS AUSWAHLMÖGLICHKEIT AM BUFFET DER KÜCHEN DER WELTDARSTELLT, IST IHR NICHT TREU.«

Was Faschisten als Grauzone erscheint, ist in Wirklichkeit Vielfalt. Sprich: Der Attentäter von Wien hat auf die Grauzone gezielt und die Vielfalt angegriffen. In Wien aber könnte man nirgendwo hinschießen, ohne Vielfalt zu treffen. Der Angreifer tötete eine lesbische Aktivistin, einen Restaurantbesitzer mit chinesischer und eine Studentin mit deutscher Migrationsgeschichte, einen 21-jährigen Burschen, dessen Familie wie seine eigene aus Nordmazedonien nach Wien gekommen war. Die Vielfalt der Stadt bleibt, sie lässt sich nicht auslöschen. Dass die strategische Wette der Dschihadisten trotzdem Aussicht auf Erfolg hat, liegt daran, dass sie auf die Reaktionen der anderen Seite ihrer Welteinteilung zählen können. 

Die Falle des IS schnappt erst in der Aufarbeitung des Geschehens zu. Es gab ein kurzes Zeitfenster, in dem es so schien, als könnte die österreichische Regierung dieser Versuchung widerstehen. Die ersten Wortmeldungen von Innenminister Nehammer und Kanzler Kurz, in der Nacht des 2. und am Morgen des 3. November, waren ungewohnt differenziert. Ob es Taktik war oder die ÖVP-Spitzen in einem unbedachten Moment von ihrem eigenen Resthumanismus übermannt wurden, wird offenbleiben. Fest steht, dass sie danach wieder in die Spur gefunden haben, in der die Dschihadisten sie sehen wollen. 

Seither spielen sie, nicht zuletzt, um vom skandalösen Behördenversagen abzulenken, das das Attentat erst ermöglicht hat, das alte Lied vom »politischen Islam«, der »mit allen Mitteln zu bekämpfen« sei (Kurz). Umgehend folgten Razzien bei tatsächlichen oder vermeintlichen »Islamisten«. Die Ermittler stützten sich dabei auf eine Studie zweier aus der ex-linken, islamfeindlichen Szene stammenden Ideologen, die zwar kein Wort Arabisch (oder Türkisch, Bosnisch oder Mazedonisch) sprechen, unter Sebastian Kurz aber zu Islamexperten mit staatlichen Weihen erkoren wurden. Das Ergebnis: keine einzige Verhaftung, dafür medialer Applaus für die demonstrierte »Entschlossenheit«. 

Indes fordert Kurz als wichtigstes Mittel gegen den Terror, der von einem in Wien lebenden Mödlinger verübt wurde, im Einklang mit Emmanuel Macron die Verschärfung der Kontrollen an den EU-Außengrenzen. Statt für das offensichtliche Versagen der Behörden Verantwortung zu übernehmen, präsentiert die Regierung, in der die Grünen nicht einmal mehr so tun, als wären ihnen Menschenrechte ein Anliegen, ein Überwachungs- und Repressionspaket, das die Dschihadisten sich nicht besser hätten ausdenken können (siehe dazu den Beitrag von Alfred J. Noll auf Seite 10). Der »politische Islam« – eine Catch-all-Formel, die den Generalverdacht gegen österreichische Musliminnen und Muslime in strafbewehrte Staatsgewalt verdichtet – soll schlicht verboten werden. Dies just vom Führer des politischen Katholizismus in Österreich. Es gibt viele Arten, der Grauzone den Kampf anzusagen.  

Aus der Warnung vor der Falle des IS folgt ein logischer Schluss. Dem dschihadistischen Terror begegnen wir am besten nicht in Verteidigung unserer »Kultur« oder »Lebensweise«, sondern mit der offensiven Forderung: Ausweitung der Grauzone! Die Grauzone ist wohlgemerkt kein liberales Diversitätswunderland. Sie kann sogar zur Hölle werden, wenn in ihr jede Unterscheidung von Gut und Böse verschwimmt. Daran erinnert uns der italienische Holocaust-Überlebende Primo Levi, der den Alltag im Lager mit dem gleichen Begriff als zona grigia beschrieb.Aber wer Vielfalt nur verteidigt, wenn sie sich als Auswahlmöglichkeit am Buffet der Küchen der Welt darstellt, ist ihr nicht treu. Die Grauzone auszuweiten, bedeutet auch, sich Konflikten und Widersprüchen auszusetzen. Etwa wenn sich zwei türkisch-wienerische Kampfsportler, die sich in die Schusslinie des Attentäters begeben, um zwei Verletzen das Leben zu retten, später als Fans der (ausgerechnet!) Grauen Wölfe herausstellen. Gilt der Ideologie der beiden unsere eindeutige Gegnerschaft? Natürlich! Ändert der Umstand etwas an unserer Solidarität mit der kurdischen Sache? Freilich nicht!Ordnen wir die beiden deshalb in das schwarz-weiße Bild eines unversöhnlichen Kulturkampfs ein? Nur um den Preis, den Kulturkämpfern auf beiden Seiten ein weiteres Stück der Grauzone zu überlassen. Gleiches gilt für den Umgang mit dem »politischen Islam« insgesamt. Er ist Teil der gesellschaftlichen Realität in diesem Land, so wie christliche, jüdische oder atheistische Weltbilder politisch orientierend wirken. Es gilt in den Streit darüber einzutreten, ob aus ihnen solidarische oder ausgrenzende Haltungen erwachsen.

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