Graeber im Gespräch

von Florian Mühlfried

476 wörter
~2 minuten
Graeber im Gespräch
David Graeber
ANARCHIE – ODER WAS?
Gespräche mit Mehdi Belhaj Kacem, Nika Dubrovsky und Assia Turquier-Zauberman
Diaphanes, 2020, 244 Seiten
EUR 18,50 (AT), EUR 18,00 (DE), CHF 22,00 (CH)

In den 1960er und 1970er Jahren waren anarchistische Ansätze in der Sozialanthropologie en vogue. In vergleichsweise auflagenstarken Büchern schrieben Pierre Clastres über Die Gesellschaft gegen den Staat oder Hans Peter Duerr über das Prinzip der Gott- und Maßlosigkeit. Man beschäftigte sich mit egalitären Gesellschaften und der Frage, welche sozialen Mechanismen anderswo der Entstehung von staatlichen Verhältnissen entgegenwirkten. Dazu kam eine diffuse Begeisterung für die indigenen Bevölkerungen der Amerikas.

In der Postmoderne verschwanden diese Ansätze von der Bildfläche, seit geraumer Zeit aber sind sie wieder da. Dafür sorgten nicht zuletzt Autoren wie James Scott mit The Art of Not Being Governed und David Graeber mit Frei von Herrschaft. Fragmente einer anarchistischen Anthropologie. Letzterer ist kürzlich verstorben, mit nicht einmal 60 Jahren. In den zahlreichen Nachrufen konnte man den Eindruck gewinnen, Ethnologen seien ein verwegener und politisch subversiver Haufen (sind sie natürlich nicht). Und nach den Nachrufen auf Graeber wird es so weitergehen wie vorher, nämlich behäbig.

Zum Glück gibt es auch Veröffentlichungen mit längerer Halbwertzeit, nämlich solche von Graeber selbst. In Aussicht steht hier eine Neubewertung der Zivilisationsgeschichte in Zusammenarbeit mit David Wengrow, die im nächsten Jahr erscheinen soll, sowie der Interviewband Anarchie – oder was?

Angelegt ist dieser Band im ersten Kapitel als Dialog mit einem Gesprächspartner und zwei Gesprächspartnerinnen. Ein Dialog ist dies allerdings nicht, zu übermächtig ist das Wort Graebers. Vielmehr nimmt dieses Gespräch die Form eines Spiels an, in das immer wieder neue Ideen eingebracht und unter die Lupe genommen werden. Und tatsächlich ist das Konzept des Spiels zentral für das Denken Graebers, es fungiert (neben dem Humor) als Mittel der Aufweichung von Herrschaftsverkrustung. Graeber zeigt sich darin ungeheuer lebendig, voll sprühender Intelligenz und fröhlichem Wagnis. Er wirkt wie jemand, der es über die Jahrzehnte in einer Kommune ausgehalten, der all die endlosen Plenen und Palaver nicht nur überlebt hat, sondern dabei auch noch klüger geworden ist. Ich kenne sonst keine solchen Menschen.

Dieses Klüger-Werden zeigt sich nicht zuletzt an einer wachsenden Ausdifferenzierung zentraler Begriffe wie dem des Staates. Steht dieser in den frühen Schriften Graebers monolithisch für Herrschaft an und für sich und damit für das Grundfalsche, wird er nun in (interessanterweise nur selten korrelierende) Aspekte der Souveränität, Sorge und Administration ausbuchstabiert. Bei all dem ist ein quasi-christlicher Unterton nicht zu überhören (wie übrigens auch bei seinem akademischen Lehrer Marshall Sahlins). Denn in der Tat gibt es für Graeber eine Art Sündenfall, der uns von den »freien Gesellschaften« entfernt hat. Hier wäre zu fragen, ob Anarchie als Retrotopia gedacht werden muss – oder nicht besser als misstrauische Praxis. Als Gegenmittel gegen behäbige Sozialanthropologie eignet sich das Buch allemal.

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