Samuel Stuhlpfarrer | Was der Opposition im österreichischen Nationalrat seit Ausbruch der Pandemie nicht so recht gelingen will, hat zuletzt das Momentum-Institut vorgezeigt – nämlich, wie eine konsistente progressive Kritik am Corona-Management der Bundesregierung aussieht. Was sagt es über den Zustand der Parteien, wenn es dafür einen Thinktank braucht?
Barbara Blaha | Na ja, in maritimen Bildern gesprochen sind Parteien und Thinktanks einfach unterschiedliche Schiffsklassen: Parteien sind die grundsätzlich viel mächtigeren, aber behäbigeren Kreuzer. Thinktanks sind die Schnellboote, die rasch und flexibel sind, auch weil sie keine Rücksicht nehmen müssen auf innerparteiliche Meinungsbildungsprozesse oder quertreibende Parteifreundinnen und Parteifreunde. Als Thinktank beteiligen wir uns an der Auseinandersetzung darüber, was ist und was sein soll. Wir arbeiten an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Und Parteien haben diese Schnittstelle noch nie alleine bespielt, sondern immer im Austausch mit Verbänden, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und engagierter Wissenschaft.
SS | In den letzten Jahrzehnten waren Thinktanks eher eine Domäne der Marktradikalen.
BB | Das stimmt. Und sie folgen ironischerweise linken Konzepten. Die Vordenker und Finanziers des Neoliberalismus haben Gramscis Konzept der Hegemoniearbeit und dessen Bedeutung für politische Gestaltung von Gesellschaften verstanden. Es ist ihnen gelungen, durch Konzept- und Begriffsarbeit das Denken von Entscheidungsträgern über Parteigrenzen hinweg zu prägen. Das kann und muss man aufzeigen, politisch reicht das aber nicht. Was es braucht, sind progressive Alternativkonzepte. Wenn wir demokratische Mehrheiten für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zusammenbringen wollen, dann dürfen wir nicht nur gegen etwas sein. Was uns wirklich stark macht, ist, gemeinsam für etwas zu sein. Und progressive Thinktanks können hierzu einen Beitrag leisten.
SS | Nach allem, was sich bis jetzt sagen lässt, hat die Bearbeitung der Pandemie Ungleichheit und Armut in Österreich erhöht. Wie könnte die Bekämpfung des Virus und seiner sozialen und wirtschaftlichen Folgen besser gelingen?
BB | Am wichtigsten wäre eine ausgewogenere Verteilung von Hilfsmaßnahmen. Wir müssen vor allem jene Menschen unterstützen, die keine Ersparnisse haben und jeden Euro zum Leben brauchen. Neben höherem Arbeitslosengeld könnte das zum Beispiel über eine temporäre Verdopplung der Familienbeihilfe passieren. Außerdem haben wir im Momentum-Institut ein Konzept für Öko-Konsumgutscheine erarbeitet, die vor allem einkommensschwächeren Haushalten zugutekämen und gleichzeitig eine ökologische Lenkungswirkung mit sich brächten. Denn nach der Krise finden wir uns weiterhin inmitten der nächsten, noch viel größeren Krise: Wir sind dabei, unseren Planeten unbewohnbar zu machen. Wir dürfen deshalb nicht einfach zurückkehren auf unseren klimaschädlichen Konsumpfad.
SS | Nach dem Rücktritt Christine Aschbachers, die sich der Erhöhung des Arbeitslosengelds konsequent verweigert hat, steht dem Arbeitsministerium mit Martin Kocher ein ausgemachter Neoliberaler vor. Was ist von ihm zu erwarten?
BB | Martin Kocher ist ein hoch qualifizierter Experte mit langjähriger Erfahrung in der Wirtschaftsforschung. Er mag parteifrei sein, ideologiefrei ist er sicher nicht. Die größte Herausforderung für Kocher ist zweifellos die grassierende Massenarbeitslosigkeit, die weiterhin im Steigen begriffen ist. Zum Jahreswechsel waren über eine halbe Million Menschen arbeitslos. Ein weiterer massiver Anstieg ist angesichts des andauernden Lockdown und der nur schleppend anlaufenden Corona-Impfungen absehbar. Bis zu einer flächendeckenden Durchimpfung braucht es daher dieses verlässlich höhere Arbeitslosengeld anstatt sporadischer Einmalzahlungen. Bis jetzt hat Kocher sich nur das Ziel gesetzt, vor 2024 die Arbeitslosenzahl wieder auf das Niveau von vor der Krise herunterzubringen. Das ist noch nicht besonders ambitioniert.
Die zweite große Herausforderung ist die Langzeitarbeitslosigkeit. So viele Menschen in Österreich wie noch nie sind langzeitarbeitslos: 171.000 mit Ende Dezember. Tendenz steigend. Hier würde ich mir vom Arbeitsminister einen Masterplan 2021 gegen die Langzeitarbeitslosigkeit erwarten. In seiner Antrittsrede hat Kocher auch von einem eventuellen Fachkräftemangel in zwei bis drei Jahren gesprochen, der also vermeintlich weit weg ist. Aber die Langzeitarbeitslosigkeit und deren Abbau hat er nicht als eigenes Ziel erwähnt. Das hat mich etwas besorgt gemacht. Ich hoffe, da kommt noch etwas.
SS | Besonders massive Kritik habt ihr am Umsatzersatz für Gastronomie und Hotellerie geübt. Warum?
BB | Der Umsatzersatz läuft in vielen Fällen auf eine Überförderung hinaus, weil ein doppelter Kostenersatz stattfindet. Die Kurzarbeit nimmt den Unternehmen die Personalkosten ab, weil ja kein Umsatz erzielt wird. Zugleich bekommen die Firmen dann aber auch noch einen Umsatzersatz bezahlt. Besonders absurd wird es, wenn Kosten auf Basis des Umsatzes vom Vorjahr erstattet werden. Kosten, die es 2020 gar nicht gab. Wenn der Unternehmer einen Teil seines Personals im vergangenen Jahr gekündigt hat, bekommt er trotzdem die fiktiven Personalkosten dafür ausbezahlt. Das Gleiche gilt für den Wareneinsatz. Wenn Gastronomen während des Lockdown logischerweise weniger Waren einkaufen, bekommen sie auf Basis des letzten Jahres ihren Wareneinsatz bezahlt. Wareneinkauf zu ersetzen, der nie stattgefunden hat, ist kein Kostenersatz, sondern eine Gewinnsubvention. Ich bin dafür, Unternehmen in der Krise nicht über die Planke gehen zu lassen. Aber es kann nicht das Ziel von Wirtschaftshilfen sein, Unternehmen Gewinne zu finanzieren. Es sollte darum gehen, ihr Überleben zu sichern. Schulden zu machen, um Unternehmen zu retten, ist also sinnvoll. Schulden zu machen, um Unternehmensgewinne staatlich zu bezahlen, nicht. Nehmen wir ein Beispiel: Die Möbelbranche hat 20 Prozent Umsatzersatz bekommen. Man fragt sich aber, wieso überhaupt etwas gezahlt wird. Denn die Branche hat ein Plus von fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr gemacht. Ihr Geschäftsjahr ist trotz Pandemie ausgezeichnet gelaufen. Wozu braucht sie staatliche Hilfe? Hinzu kommt, dass in unserem Steuer- und Abgabensystem nicht jene die bevorstehende Budgetkonsolidierung schultern werden, die heute diese Gewinne einstreifen. Sondern diejenigen, die ihnen jetzt in der Krise großzügig unter die Arme greifen. Um die Steuerzahlerinnen also nicht doppelt für die Krise zahlen zu lassen, bräuchte es substanzielle Erbschafts- und Vermögenssteuern, die in Österreich völlig fehlen.
SS | Ließe es sich vielleicht so drehen: Die Bundesregierung hat sich zwar nicht ausreichend auf die zweite Welle vorbereitet; dafür aber darauf, vorhandene Klassengegensätze zum Vorteil der eigenen Klientel weiter zu vertiefen?
BB | Ich bin mir nicht sicher, ob so eine Analyse der ÖVP nicht zu viel Strategie unterstellt. Vieles ist da sehr chaotisch gelaufen. Zugleich ist aber richtig, dass sich Lobbys mit besonderer ÖVP-Nähe erfolgreich in Stellung gebracht haben, nicht nur die Adlerrunde in Tirol. Zudem verschlimmert rechtskonservative Ideologie in vielen Bereichen die wirtschaftlichen Folgen von Corona unnötig. Das betrifft vor allem die viel zu niedrige Arbeitslosenunterstützung trotz Massenarbeitslosigkeit. Das ist nicht nur moralisch, sondern auch ökonomisch falsch, weil es den Einbruch der Nachfrage in der Krise noch verschärft. Dass sich Arbeitslosigkeit durch ökonomischen Druck auf Arbeitslose bekämpfen lässt, ist allgemein Unsinn, in einer Pandemie aber ganz besonders.
SS | Das Infektionsgeschehen in Schulen gilt mittlerweile gemeinhin als Motor der Virusverbreitung. In Großbritannien etwa forderte die Labour-Linke deshalb schon vor Weihnachten unverzügliche Schulschließungen – gegen den anfänglichen Widerstand aus der eigenen rechten Parteiführung und gegen die abwartende Strategie Boris Johnsons. Wieso hat sich das Momentum-Institut in Österreich wiederholt gegen Schulschließungen positioniert?
BB | Dem würde ich widersprechen. Wir haben uns nicht generell gegen Schulschließungen ausgesprochen. Wir haben uns die Daten angesehen und klar gesagt: Schulschließungen müssen die Ultima Ratio der Pandemiebekämpfung sein und nicht das erste Mittel der Wahl. Ein Lockdown der Schulen hat auf Familien und Kinder ganz unterschiedliche Auswirkungen: Während gut verdienende Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Homeoffice wechseln, können Eltern, die an der Supermarktkassa arbeiten oder das Krankenhaus putzen, das nicht. Das heißt, Kinder aus privilegierten Familien haben im Homeschooling viel Unterstützung von ihren Eltern erfahren, sie schafften es auch zu Hause gut mitzulernen. Wo die Eltern nicht ins Homeoffice konnten, wo vielleicht ein Laptop für drei Kinder reichen musste, wo kein Drucker verfügbar war, da sah es ganz anders aus. In der Öffentlichkeit wurde so getan, als sei das halt die Verantwortung der Eltern. Aber selbst wenn die daheimbleiben wollten, wurde ihnen das nicht erlaubt. Ein Viertel der Eltern, die sich selbst zur Arbeiterinnenschicht zählen, gab an, dass ihnen für Kinderbetreuung kein Urlaub beziehungsweise keine Sonderbetreuungszeit genehmigt wurde. Bei Eltern, die sich zur Oberschicht zählen, lag dieser Wert nur bei 14 Prozent. Die Gleichung lautet eben nicht: Schule für alle auf oder Schule für alle zu. Es gibt Alternativen, wie immer im Leben. Die Frage ist doch, wie schaffen wir es, dass die Schulen ein sicherer Lern- und Arbeitsraum sind? Durch CO2-Messgeräte, Luftfilter, ausreichend FFP2-Masken und flächendeckende Tests könnte man viel gewinnen. Zahlreiche Räume stehen derzeit leer, Sport-, Veranstaltungs- oder Kulturzentren etwa. Klar könnte man die Klassen ausdünnen, wenn dezentraler unterrichtet würde. Dazu braucht es natürlich auch zusätzliches Personal. Aber jede Investition, die einen weiteren Lockdown verhindert, rechnet sich volkswirtschaftlich enorm.
SS | Wie beurteilst du generell die Arbeit von Türkis-Grün nach dem ersten Jahr?
BB | So eine Beurteilung kann sich derzeit eigentlich nur auf die Bewältigung der Pandemie beziehen. Und hier zeigt sich immer mehr, dass Sebastian Kurz mit seiner Ankündigungs- und Symbolpolitik in so einer fundamentalen und lang anhaltenden Krise an seine Grenzen stößt. Wenn es gleichzeitig nämlich schlicht am notwendigen Handwerkszeug fehlt, geht sich der Spagat zwischen Verheißung und Realität irgendwann nicht mehr aus. Österreich war auf die zweite Corona-Welle, die alle Expertinnen kommen sahen, geradezu atemberaubend schlecht vorbereitet. Nicht nur was die Infrastruktur in den Schulen, sondern was das Krisenmanagement ganz allgemein betrifft. Denken wir nur an den Zusammenbruch des Contact-Tracing innerhalb weniger Wochen. Ein ähnliches Muster konnten wir beim Impfstart erkennen.
SS | Du hast vorhin die anstehende Budgetkonsolidierung und in diesem Zusammenhang die Forderung nach Erbschafts- und Vermögenssteuern erwähnt. Bräuchte es angesichts der sich immer weiter verschärfenden Ungleichheiten und der »viel größeren Krise«, von der du gesprochen hast, nicht längst ein transformatorisches Programm, das weit darüber hinausgeht? Ich denke da wenigstens an die Re-Verstaatlichung zentraler Infrastrukturen, an eine staatliche Investitionsbank zur Finanzierung öffentlicher Pflege, öffentlichen Wohnungsbaus und zur Konversion klimaschädlicher Industrien.
BB | Ja, natürlich. Zur Finanzierung von Hilfsprogrammen wurden in den USA während der großen Depression in den 1930ern die privaten Goldreserven beschlagnahmt. Im Mutterland des Kapitalismus. Mittelfristig ist klar: entweder ein Haircut für die Reichen oder eine Krisenbewältigung auf Kosten der 90 Prozent, mit der absehbaren politischen und sozialen Polarisierung, die das nach sich zieht. Wir müssen auch dahin kommen, grundlegendere Maßnahmen öffentlich ernsthaft diskutierbar zu machen. Für die notwendige ökologische Transformation gilt das noch mehr. Aber unter demokratischen Vorzeichen lässt sich eine nachhaltige Wirtschaftsweise nicht auf Kosten, sondern nur mit den 90 Prozent etablieren: Wenn sie das Leben der 90 Prozent besser macht, nicht schlechter.
SS | Du selbst hast dich im Jahr 2007 mit dem Austritt aus der SPÖ von der parteipolitischen Bühne verabschiedet. 2016, unter Kanzler und SPÖ-Chef Kern, stand für einen kurzen Augenblick die Rückkehr als Chefin des SP-nahen Renner-Instituts im Raum. Wie ernsthaft waren die Gespräche damals?
BB | Seit meinem Austritt gab es immer wieder Gerüchte über diverse Angebote aus der Politik. Nationalrätin für die Grünen. Chefin des Renner-Instituts. Ich habe solche Gerüchte nie kommentiert und werde das auch weiterhin nicht tun.
SS | Inwieweit stehen hinter deinem Institut und seinem Onlinemagazin Erwägungen, ins parteiförmige politische Geschäft zurückzukehren? Hast du noch Ambitionen auf ein politisches Amt?
BB | Das Institut ist der Versuch, marktradikaler Meinungshegemonie etwas entgegenzusetzen. Diese irrationale Marktgläubigkeit finden wir – in unterschiedlicher Intensität, aber doch – in allen Parteien. Genau deshalb ist es für uns zentral, parteipolitisch unabhängig agieren zu können. Uns kann niemand etwas anschaffen. Als Momentum-Institut stehen wir ganz am Anfang eines Marathons, der mich jedenfalls die nächste Dekade voll auslasten wird. Was in 15 oder 20 Jahren ist? Keine Ahnung.
SS | Zuletzt hast du den Begriff der Klasse wieder stark gemacht, ganz im Trend aktueller Debatten. Worin liegt für dich im Unterschied – oder als Ergänzung – zur Identität die Relevanz der Klasse? Wie lässt sich anhand dieses Begriffs unsere Gesellschaft analysieren? Und wie utopische, über die Klassengesellschaft hinausgehende Vorstellungen von Zusammenleben formulieren?
BB | Klasse ist als Kategorie unverzichtbar, weil sie sowohl ökonomische Situation, Bewusstsein und Kultur als auch Machtfragen analytisch berücksichtigt. Identität ist auch wichtig, reicht aber nicht aus, um die soziale Realität in all ihrer Komplexität zu erfassen. Zugleich ist Klasse als ein relationales Konzept bestens geeignet, die Grenzen liberaler Aufstiegsmythen zu verdeutlichen. Wenn wir mal geklärt haben, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, dann können wir uns die Diskussion darüber sparen, ob Wohlstand für alle unter solchen Vorzeichen umsetzbar ist. Reichtum basiert ja darauf, dass es Armut gibt, das hat schon Adam Smith ganz deutlich ausgesprochen: Damit einer reich sein kann, müssen mindestens fünfhundert arm sein. Als Säulenheiliger der klassischen Nationalökonomie wusste der Mann, wovon er sprach. Seine ideologischen Enkel tun so, als hätten sie die Interessen der Allgemeinheit im Blick, wo sie in Wirklichkeit eine Politik für die oberen Zehntausend betreiben. Man muss Smith immerhin zugutehalten, dass ihm so eine Hypokrisie fremd war.
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