»Rolling Lockdown« wird in der englischsprachigen Diskussion die kaum mehr zu überblickende Abfolge von weicheren und härteren Lockdowns, beschränkten Öffnungen und schlechten Kompromissen (meist zugunsten »der« Wirtschaft) genannt. Die Kampagne #ZeroCovid, die in Anlehnung an ihr englisches Vorbild seit 12. Jänner in Deutschland, Österreich und der Schweiz um Unterstützung wirbt, erklärt diese Strategie einer eindämmenden Kontrolle der Covid-Infektionen für gescheitert. Damit spricht sie vielen Menschen aus der Seele – das zähe und elende Geschleppe durch sich ständig ändernde Einschränkungen bei aufrechtem Arbeitsimperativ (und für Eltern bei gleichzeitigem Lernmanagement) zehrt massiv an den Nerven.
Seit Ausbruch der Corona-Krise haben sich die linken Debatten im deutschsprachigen Raum lange auf Analyse, Kommentierung und Kritik der Folgen dieser Krise beziehungsweise der gesetzten politischen Maßnahmen beschränkt. An Fehden und tiefen Rissen mangelte es ihnen nicht – die grundsätzliche Bejahung einschneidender Schritte zur Eindämmung stand gegen die Kritik am Staat und seinen repressiven Maßnahmen. Sekundiert von Klagen, der Staat tue zu wenig. Eine Auseinandersetzung über Möglichkeit und Gestalt einer linken Corona-Politik, das heißt einer radikalen, emanzipatorische Prozesse stärkenden Strategie zur Bekämpfung der Pandemie, fehlte dagegen bislang.
Mittlerweile liegen verschiedene Vorschläge für eine solche auf dem Tisch. Sie teilen viel in ihrer Analyse, ziehen jedoch unterschiedliche Schlussfolgerungen. Während sich die einen von großmächtigen staatlichen Interventionen verabschieden möchten und auf eine »Biopolitik von unten« in Form von Maßnahmen setzen, die je nach Ort und Konstellation differenziert sind (siehe dazu den Beitrag von Panagiotis Sotiris), drängt #ZeroCovid in eine andere Richtung: Das Virus lasse sich nicht eindämmen oder kontrollieren – sondern nur in einem konzertierten Akt gesellschaftlicher Mobilisierung an einen Punkt drängen, da die Infektionszahlen gen null gehen. Das erfordere einen Lockdown, der weiter reicht als seine jetzigen »harten« Varianten.
Eingebettet werden soll dies in eine Politik, die die Menschen von der Arbeit freispielt (statt Unternehmen durch milliardenschwere Förderungen eine fortgesetzte Akkumulation zu ermöglichen), sozial Schwache unterstützt, die Gesundheitsinfrastrukturen stärkt, Privatisierungen in diesem Bereich zurücknimmt und Impfmittel als Gemeingut deklariert. Initiatorinnen der Kampagne sind unter anderen Verena Kreilinger, Christian Zeller und Bini Adamczak; es mangelt nicht an prominenten Erstunterzeichnern von Margarete Stokowski über Stefanie Sargnagel und Raul Zelik bis hin zu Fachpersonal aus der Medizin.
Die Kampagne knüpft nicht nur an das Gefühl an, dass die bisherige Politik gescheitert ist, sondern auch an eine verbreitete Alltagserkenntnis: besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Und sie trägt einen kleinen utopischen Horizont vor: Wenn man gesellschaftlich nur will, ist es möglich, das Virus völlig zu besiegen. So handelt es sich bei #ZeroCovid um die umfassendste politische Ansage, die es in Sachen Covid-19 von linker Seite bisher gibt – sie hat Stoß und Richtung, ein großes Verdienst.
Doch Zweifel sind berechtigt – an der Umsetzbarkeit, aber auch prinzipieller Art. Wie kann ein superharter Lockdown verfangen, wenn sich das Instrument – ein Blick auf den Alltag in den Städten genügt – offenbar zu erschöpfen beginnt? Der Joker eines völligen Herunterfahrens wurde im Frühjahr vergeben, wie sich herausstellte auch mit rechtlich nicht gedeckten oder schlicht verfassungswidrigen Vorgaben. Und die Kosten dieses Vollstops werden die gleichen sein. Sie betreffen Ärmere stärker, muten Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern überproportional viel zu und verstärken die Ungleichheit in der Gesellschaft entlang von Geschlecht, Ethnizität und Klasse.
Die Vorstellung eines musterhaften Lockdown als Befreiungsschlag geht aber auch an der gesellschaftlichen Realität vorbei. Erstens, ein wirkliches, europaweites Herunterfahren ist nicht möglich. Es wird unterschätzt, wie viele Menschen am prekären, oft migrantischen Ende der Gesellschaft weiterarbeiten müssen, damit Versorgung, Infrastruktur und Belieferung nicht zusammenbrechen. »Systemrelevant« sind mehr Menschen, als man denkt. Verhandeln über die Klassifizierung als systemrelevant würden zudem nicht die tatsächlich Arbeitenden und Konsumenten, sondern Unternehmer und Staat. Die Folge wäre ein zähes Ringen um Akkumulationsfreiheit und Kontrolle statt um Solidarität und Notwendigkeit. Zweitens, #ZeroCovid übergeht, in welchem Maße die europäischen Gesellschaften von einer ständigen, kurz getakteten, zirkulären Migration auf mittlere Distanz abhängig sind. Gerade im Gesundheitssektor, aber auch für die in ihrer Zahl explorierenden Tätigkeiten in Logistik und Zustellung. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind transnationalisierte Gesellschaften. Eng damit verbunden ist ein abstrakteres Problem, das bei der britischen Variante der Kampagne im Post-Brexit-Kontext noch deutlicher spürbar wird: #ZeroCovid fußt auf der souveränistischen Illusion, man könne in einem bestimmten Hoheitsgebiet das Virus zu Tode jagen, ohne dass es zurückkommt. Darüber, dass dies nicht gelingen wird, kann auch der Europabezug der deutschsprachigen #ZeroCovid-Kampagne nicht hinwegtäuschen.
Gleichfalls nicht hinwegtäuschen über diese argumentative Lücke kann der Verweis auf jene Länder, in denen das Ziel #ZeroCovid vermeintlich verwirklicht worden sei, allen voran in Ostasien und Ozeanien. Zumal dort, wo es größere gesellschaftliche Ähnlichkeiten zu den hiesigen Verhältnissen gibt, vor allem ein Faktor entscheidend zu sein scheint: das frühe und beherzte Eingreifen. Sonst verbindet viele bei der Virusbekämpfung erfolgreiche Länder vor allem zweierlei: die komplette Abschottung (und geografisch tatsächlich abschottbare Grenzen) sowie ein hohes Maß an Repression. Am ehesten eignet sich für einen Vergleich mit der Großregion Europa wohl China. Dort gibt es – trotz der Erfolge bei der Eindämmung zum Preis staatlicher Vollmacht – ebenso eine Pendelbewegung. Vom Ziel der Überwindung von Covid-19 kann keine Rede sein.
#ZeroCovid steht in einer Tradition voluntaristischer linker Vorstellungen über Gesundheitspolitik, die eine schlagartige »Ausrottbarkeit« bestimmter Erkrankungen postulierten. Für viele Erreger traf dies historisch zu, dank Impfkampagnen, Hygienemaßnahmen, Antibiotika, aber vor allem einer feingliedrigen medizinischen Versorgung. Für andere Erreger traf es jedoch nicht zu. Und während die Besiegbarkeit des Coronavirus auch unter vielen Wissenschaftern eine gängige Position ist, sind andere Expertinnen uneins: Man kann das Coronavirus nicht »aushungern«, es wird genauso wie Rhino- und Influenzaviren mit uns bleiben.
Ob die Kombination aus Befreiungsschlag, Gerechtigkeitsforderungen und staatlichem Großeingriff viele Befürworter zu sich zieht, wird sich weisen. Während die Realität in kurzer Frist schon wieder alle Debatten überholt haben könnte (Variante: superharter Lockdown ohne verwirklichte Gerechtigkeitsforderungen), liegt ein wichtiger Vorzug von #ZeroCovid darin, dass die Kampagne die Aufmerksamkeit auf Arbeit und die Kämpfe darum lenkt. Auf der Website der englischen #ZeroCovid-Kampagne geht es etwa ausdrücklich um die Anliegen der prekarisierten und individualisierten Scheinselbständigen, um die Mitarbeiterinnen im Gesundheitssektor wie um die Industriearbeiterschaft. Dies ist im Übrigen auch ein Schlüssel bei allen Strategien, die stärker auf Testungen, Tracing und Quarantäne setzen: Es geht um die Bedingungen von Arbeit – der potenziell Betroffenen, aber auch jener, die zur Eindämmung der Infektionen aufgeboten werden.
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