Eine im Burgenland verbrachte Kindheit und Jugend. Eine Zeit, in der Glück und Unmut immer wieder miteinander im Clinch lagen. Davon erzählt das neue Album Die Gruppe der Band Ja, Panik, das diesen Monat beim Hamburger Label Bureau B erscheint. Während in dem Song Backup Gitarren klingen, als würden Fela Kuti und King Sunny Adé zusammen jammen, sieht sich das Kind Andreas als »unruhiger Geist / einer der trouble sucht«. Der entdeckte, dass »in mir … ein Highway (war) / und verwinkelte Gassen«, und seitdem galt es, »die Welt«, in der er lebte, zu »verlassen«. Das dauerte »7300 Tage« oder 20 Jahre. Die Reise endete, als Ja, Panik sich zum ersten Mal für Aufnahmen in einem Studio trafen, in der Cselley Mühle im burgenländischen Oslip. Was bei den Aufnahmen passierte, beschreibt Spechtl ebenfalls in Backup: »I built me a rocket«. Wer mit der losflog, konnte sich mit viel Schwung und ganz schnell aus jeder bisher befahrenen Umlaufbahn seiner Biografie herauskatapultieren. Als Spechtl wieder aus der Mühle und in ein angenehmes Abendlicht trat, keimte bei ihm die aufregende Aussicht, die Rakete nach deren Bau auch zu benutzen. Bald teilte er den anderen Bandmitgliedern seine Entscheidung mit: »Macht, was ihr wollt, aber ich gehe nach Berlin.«
Kristof Schreuf | Zwischen eurem letzten Album Libertatia und dem neuen Die Gruppe liegen sieben Jahre. War die Band dazwischen aufgelöst oder hat sie bloß eine Pause eingelegt?
Andreas Spechtl | Für uns fühlte es sich nicht wie eine Pause an. Wir haben unter anderem die Band-Biografie Futur II geschrieben. Dieses Buch war praktisch unsere nächste Platte, eine in Schriftform. Sie hat uns geholfen herauszufinden, was diese Band Ja, Panik eigentlich ist.
KS | Habt ihr die Antwort gefunden?
AS | Ja. Uns ist klar geworden, dass Ja, Panik für sehr viel mehr steht, als dass sich ein paar Leute mal häufig und mal weniger oft mit Bass, Gitarre und Schlagzeug treffen. Wir sind zum Beispiel seit langer Zeit Freunde. Mit Stefan (Pabst, Bassist von Ja, Panik, Anm.) tausche ich mich aus, seit ich 15 bin, und mit ihm und den anderen Mitgliedern der Band habe ich lange zusammengewohnt. In acht Jahren stellten wir fünf Platten fertig und gingen jedes Mal auf Tour, um sie vorzustellen. Die Musik, das Musikmachen, ja, selbst das Zusammenwohnen – alles war mit Ja, Panik sehr intensiv. Nach Libertatia hätten wir gleich noch eine oder vielleicht sogar zwei Platten angehen können. Bloß hätten wir danach mit Sicherheit nie wieder eine gemacht. Die Band wäre implodiert. Stattdessen reizte uns anderes Zeug. Stefan hat sein Studium abgeschlossen. Sebastian (Janata, Schlagzeuger, Anm.) hat einen Roman verfasst. Laura (Landergott, Gitarristin und Keyboarderin, Anm.) und ich haben an mehreren Theaterstücken mitgewirkt. Und nicht zuletzt hat jeder von uns viel, viel Musik gemacht, bloß für eine Weile eben nicht miteinander. Der Band Ja, Panik hat das gutgetan. Wie sagt man? Wir mussten weggehen, um wieder zurückkommen zu können.
Im von der Hamburger Band Die Goldenen Zitronen betriebenen Art Blakey Studio nahm Andreas Spechtl zu Beginn der 2010er Jahre an einem Klavier Platz. Er drückte eine Zigarette in einem neben ihm stehenden Aschenbecher aus, legte ein paar Finger auf die Tasten, beugte sich ein wenig nach vorn, begann zu spielen und sang: »Du und ich, wir können viel erreichen / Leidenschaft ebnet unsern Weg / ganz gleich, wohin es geht / Mit dieser Idee / in jedem Gedanken / Du und ich sind das, was zählt / Gemeinsam mit jedem Pulsschlag erfinden wir die Welt«. Auf das erste Hören wirkten die Zeilen wie eine Ode an die selbstbewusstseinsspendende Kraft der Zweisamkeit. Doch tatsächlich handelte es sich um eine »Firmenhymne«. Solche Lieder werden von professionellen Komponisten und Textern verfasst, um sie von Mitarbeiterinnen eines Unternehmens als Lob auf ihren Arbeitgeber oder auf das Produkt, das sie herstellen, singen zu lassen. Spechtl wandte sich mit diesem Lied daher an keinen Menschen, sondern erklärte seine Liebe einem Klebeband. Darum hatte ihn der Gesellschaftskritiker Thomas Ebermann gebeten, der für ein Theaterstück Vertonungen solcher Machwerke benötigte – unter der Bedingung, kein Wort am Text zu ändern. Und obwohl die Worte geradezu nach einer satirischen musikalischen Umsetzung schrien, trug Spechtl sie vor, als würde ihm die »Leidenschaft« – nochmal: für ein Klebeband – tatsächlich einen »Weg« ebnen, und dann »erfinden wir die Welt«. Der Grund für die Hingabe lag in seiner Auffassung, Musik erlaube keine Intonation in Anführungsstrichen.
KS | Losgegangen sind Ja, Panik in unzähligen Momenten, um an vielen unterschiedlichen Orten anzukommen. Einer dieser Momente wird auf dem neuen Album datiert. In 1998 singst du wie ein entspannter David Sylvian von der gar nicht so anders heißenden Band Japan zu einer Orgel wie von den späten Talk Talk: »There was a crack in the world / And I tried to slip in / I was looking for you / But I found / All sorts of things«. Ist es für dich aufregender, »All sorts of things« – die Musik und das Musikmachen – zu entdecken, als herauszufinden, wer »you« ist und wer »me« sein könnte? Oder anders gefragt: Bereitet dir Kunst mehr Vergnügen als Selbstbetrachtung?
AS | Absolut. Ich würde die Schraube sogar etwas weiterdrehen: »All sorts of things« sind im Lauf der Zeit zu »you« und »me« geworden.
KS | Im Laufe welcher Zeit?
AS | Na, seit dem Internet. Vorher hatte ich auch schon instinktiv nach irgendwelchen »things« gesucht. Aber ich wusste weder, wie viele es gibt, noch, wie sie aussehen. Ich war 1998, wie ich singe, ein »Country Boy« von 14, 15 Jahren. Meine Ansichten damals ähnelten denen der Menschen in Platons Höhlengleichnis. Ich hielt Schatten für Lebewesen, die sprechen können. Denn ich wusste ja nicht, was oder wer die Schatten warf. Als ich dann zum ersten Mal ins Internet ging, kam ich mir vor wie der Mensch, der sich in der Höhle umdreht und das Feuer entdeckt. Wenn er aus der Höhle rauskommt, blinzelt er ins Tageslicht, und wenn er nach oben schaut, sticht ihm die Sonne in die Pupillen. 1998 war das Internet für mich das Feuer und das Tageslicht und die Sonne, die mir die Augen öffneten. Bilder, Kunst und damit jede Menge neue Gedanken gingen auf den »Country Boy« nieder und veränderten dessen Sozialisation. »You« stellte sich als ganz und gar nicht fertige, abgeschlossene Vorstellung heraus. Und ich kriegte raus, wer »ich« außer mir noch alles sein konnte.
Zu der Zeit, als Spechtl in Hamburg aufnahm, veröffentlichten Ja, Panik ihr viertes Album. DMD KIU LIDT klang noch interessanter, wortgewaltiger und gewagter als die vorangegangenen Veröffentlichungen. Spechtls Songtexte verbreiteten mulmige Gefühle: »Ich bin ausgezogen in Sachen Liebe und Hass / Ich kann nicht sagen, dass ich wieder gut heimgekommen bin«. Da war er Mitte zwanzig und in Stimmung, sich innerhalb und außerhalb der Band künstlerische Herausforderungen zu suchen.
Spechtl reißt bis heute andere durch seinen Willen, immer weiterzumachen, mit. Zu seiner Haltung passt, dass im Proberaum von Ja, Panik ein altes, zerfleddertes Buch mit dem Titel Verzweifle nicht, arbeite herumliegt. Es ist zwar nicht bekannt, ob es von den Bandmitgliedern gelesen wurde, oder ob überhaupt mal der eine oder die andere reingeschaut hat. Aber zur Atmosphäre passt es allemal.
Andreas Spechtl unterscheidet sich von vielen, die zur gleichen Zeit wie er oder sogar mit ihm zusammen anfingen. Manch früheres Bandmitglied von Ja, Panik ließ die nackte Existenzangst in ein bürgerliches Dasein flüchten. Andere beschädigten ihr Nervensystem so lange mit Bandproben, Konzerten und Studioaufenthalten, bis sie das Musikmachen sein lassen mussten. Deshalb spielt von der ersten Besetzung von Ja, Panik heute nur noch der Bassist Stefan Pabst mit. Doch für jeden von denen, die sich, je nach Persönlichkeit, entschlossen oder gezwungen sahen, Jugendträume zu begraben, um sicherere berufliche Wege zu gehen, gibt es die Möglichkeit, zurückzukommen. Rock ’n’ Roll kann schließlich nach wie vor verdammt verführerisch sein.
KS | Wie bist du darauf gekommen, dich für Die Gruppe wieder mit der fast schon ehemaligen Band zusammenzutun?
AS | Ich habe mir bei meinen Solo-Alben eine gewisse Strenge bei der Auswahl der Songs erlaubt. Manche Ideen passten drauf, andere wollte ich auf keinen Fall passend machen. Dabei handelte es sich um solche, die ich im Kopf, wenn auch sehr vage, als Idee für die nächste Ja, Panik-Platte abspeicherte. Auch wenn nicht abgemacht war, dass es eine nächste Platte von uns geben würde. Irgendwann jedenfalls hatte sich eine wahnsinnige Menge an Texten und Liedfragmenten angesammelt. Ich traf die anderen, erzählte davon und fragte, ob wir die uns mal gemeinsam anhören wollten. Schönerweise meinten sie: »Warum nicht?« Das war 2019. Dann wollte ich das Material durchgehen. Die geschriebenen Notizen in Kladden. Die Soundfiles aus dem Computer. Eine Freundin von mir ließ mich zwei Monate in ihrer Wohnung in Sfax in Tunesien am Meer wohnen. Da nahm ich allein Demos auf. Dann kam ich zurück, mitten in den Lockdown rein. Eine absurde Erfahrung. Die Band versammelte sich anschließend in Deutsch Jahrndorf im Burgenland. Ein 400-Seelen-Dorf an der slowakisch-ungarischen Grenze. Dort hatten wir ein Haus, in dem wir uns ein Studio einrichteten und aufnahmen. Beim Blick aus dem Fenster konnten wir die vormalige Grenze sehen.
KS | Aus dem Burgenland war die Band Ja, Panik einst ausgezogen, um woanders Musik zu machen. Als ihr für die Aufnahmen zum neuen Album dorthin zurückgefahren seid, kam dir das wie Science-Fiction vor?
AS | Es fühlte sich so an. Früher wirkte die Gegend wie das Ende der westlichen Welt. Der letzte Ort vor dem Eisernen Vorhang. Heute ist der Vorhang längst abgehängt. Nach dem Mittagessen kannst du einen Verdauungsspaziergang nach Ungarn machen oder in die Slowakei. Diese Orte sind aber nicht nur zu Fuß ganz leicht erreichbar. Denn trotz objektiv gleichbleibender räumlicher Entfernung kommen sie sich subjektiv immer noch näher. Ja, sie rücken sich gegenseitig geradezu auf die Pelle. Genauso im Rest von Europa oder an der nordafrikanischen Küste, in Mexiko oder eben in diesem Kaff an der Grenze der EU. Überall kann ich mich, wie ein Cyborg, mit einem Klick an die andere, digitale Welt anschließen und jede Ecke und jeden Winkel sofort grell ausleuchten. Bald kannst du nicht mehr sagen, wer übergriffig ist: Der Traum, den du träumst, oder der Livestream, der den Traum zeigt. Wenn dann noch so etwas ausbricht wie das Corona-Virus und Monat um Monat nichts passiert und sich nichts ändert außer Inzidenzen, dann können Plattenaufnahmen eine Erholung bedeuten.
KS | Welchen Ansatz habt ihr bei den Aufnahmen verfolgt?
AS | Die Solo-Alben hatten mir viel Übung beim Aufnehmen eingebracht und auch die Platten mit Christiane Rösinger. Deshalb konnten wir nicht nur, sondern wir wollten alles selbst machen. Ein bisschen fühlte sich das wie eine Rückkehr zu früheren Ideen von Ja, Panik an. Denn schon mit 20 hätten wir am liebsten alle Aufgaben selbst übernommen, aber damals fehlte das Equipment, wir hatten auch nicht einmal das Know-how, es zu benutzen. Dieses Mal lief das anders. Wir nahmen die Platte selbst auf, gestalteten das Cover selbst und drehten die Videos zum größten Teil ohne Hilfe von anderen. Dieses Vorgehen hat sich sehr gut angefühlt.
Gemeinsam mit dem Musiker und Schauspieler Robert Stadlober schrieb Andreas Spechtl sämtliche Songs für das Theaterkonzert Der eindimensionale Mensch wird 50. Ein ambitioniertes Projekt, das wiederum Thomas Ebermann auf der Grundlage der Bücher von und Interviews mit dem Philosophen Herbert Marcuse angeschoben hatte. Das war 2014.
Danach veröffentlichte Spechtl seine erste Solo-Platte Sleep, in der er Reste von Aufnahmen aus Proberäumen, Studios und Wohnzimmern, Flughafen-Bars und Eck-Cafés verarbeitete.
Für sein zweites Solo-Album Thinking About Tomorrow, and How to Build It reiste er in den Iran, wo er Kompaktkassetten fand und zusammenschnitt. Spechtl wollte nichts anderes mehr unternehmen als eine Entdeckungsfahrt nach der anderen. Beim dritten Solo-Album Strategies lag sein Augenmerk wieder mehr auf Texten – die sich zum Beispiel um »brennende Betten« drehen konnten – als auf dem lässigen Durchwandern aparter, akustischer Landscapes.
Inzwischen ist er ein musikmachender Globetrotter geworden. Spechtl geht es dabei nicht um ein exotisches Flair, wie es Reisende von Marco Polo bis Joseph Conrad umgibt. Vielmehr treibt ihn die Einsicht an, dass sich am besten etwas über die Welt erfahren lässt, wenn einer Mal um Mal los- und überall hinfährt. Die Inspiration erreicht ihn je besser, desto längere Strecken er zurücklegt, von Berlin in den Irak, von der Deutschland-Tour in den Iran und vom Atlantik zum Indischen Ozean. Und manchmal führt ihn diese Fahrt eben zurück ins Burgenland. Oder wie es in Libertatia (auf dem gleichnamigen Ja, Panik-Album aus dem Jahr 2014) heißt: »Ich wünsch mich dahin zurück, wo’s nach vorne geht / Ich hab auf back to the future die Uhr gedreht / Space is the place, der die Flüchtigen liebt / Ganz wie jeder Anfang in Trümmern liegt«.
KS | Von Platte zu Platte spinnen Ja, Panik rote Fäden weiter. »Traurigkeit« kam im Titel eines früheren Albums vor. Jetzt singst du in dem Stück The Cure Zeilen wie »The only cure from capitalism is more capitalism«. Ich übersetze das für mich frei: Die Möglichkeit, die bleibt, ist, weiter dorthin zu gehen, wo es wehtut.
AS | Davon handelt das Stück. Und davon, dass es darum geht, bitte doch in der Welt zu bleiben. Denn vom Abkapseln, von anderen, angeblich besseren Welten und heterotopischen Ideen halte ich nicht viel. Deshalb auch dieser Nachsatz: »That’s the real capitalism«. Du bist überall und ständig mitgehangen, mitgefangen. Du bist drinnen und wirst anerkennen müssen, dass du in dieser Außen-Losigkeit bleibst. Anerkennen, dass dich der Kapitalismus überall im Sack hat. Das mit den Fäden sehe ich übrigens anders als du. Wenn ich auf unsere bisherigen Platten schaue, dann geht es da um bestimmte Themen, die wie Satelliten um Ja, Panik herumschwirren. Die beeinflussen uns mal mehr, mal weniger, und die betrachten wir mal von dieser und dann wieder von jener Seite. Diese Themen sind immer da, und diese Fragen lassen uns nicht los: Wie lässt sich in einem System leben, das dich krank werden lässt und gleichzeitig repariert, um dich erneut krank machen zu können? Wie gehst du damit um und was ist der angemessene Ausdruck, wenn du erkennst: Das Virus und der Doktor sind ein- und dieselbe Person.
Das Gespräch mit Andreas Spechtl führte der Musiker und Journalist Kristof Schreuf.
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