Ein Gespenst geht um in Europa – es ist das Gespenst des Klassismus. Im Anschluss an zahlreiche Veröffentlichungen wie Anna Mayrs Die Elenden (siehe dazu auch den Beitrag von Hannah Eberle), Deniz Ohdes Streulicht oder Veronika Bohrn Menas Leistungsklasse wird in Feuilletons und sozialen Medien verstärkt über soziale Ungleichheit, die Klassengesellschaft und Armut diskutiert. Für die einen ist Klassismus – angelehnt an Begriffe wie Sexismus oder Rassismus – eine Form der Diskriminierung, die man bekämpfen müsse. Andere sehen darin eine Verwässerung des Klassenbegriffs, da nicht mehr die Klassengesellschaft selbst, sondern nur noch die Diskriminierungsform thematisiert werde. Dies hätte zur Folge, dass das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe bloß individuell eingeklagt werde. Wohl nicht zufällig sind die Protagonistinnen der Debatte um Klassismus meist Arbeiterkinder, die ihre Erfahrungen in der Hochschule teilen. Sie erzählen ihre Aufstiegsgeschichte, die von Verletzungen und Herabsetzungen aufgrund ihrer sozialen Herkunft geprägt ist. Doch was ist mit denjenigen, denen ein Aufstieg gänzlich verwehrt wurde, die »ganz unten« gelandet sind und dort auch bleiben? Was ist mit den Erfahrungen jener »Deklassierten«, die nicht von fehlender Chancengerechtigkeit, sondern von völliger Ausgrenzung geprägt sind? In modernen Gesellschaften wurden und werden Teile der Bevölkerung als »unerwünscht«, »unwürdig« oder »deviant« aussortiert. Im Extremfall führt dies dazu, dass Menschen komplett ausgeschlossen und übersehen werden. So berichten Menschen ohne festen Wohnsitz davon, wie die Ignoranz und die Teilnahmslosigkeit ihrer Umwelt für sie nicht weniger schwer wiegen als ihre materielle Armut. Zur Abwertung kommt hinzu, dass wohnungs- und obdachlose Menschen in steigender Zahl gewalttätigen Angriffen ausgesetzt sind, meist von Rechten. Aber auch indirekt erfahren sie Gewalt, wenn in Großstädten nach der Logik einer »defensiven Architektur« Bänke in Parks oder Bahnhöfen so gestaltet sind, dass Menschen nicht auf ihnen liegen können, oder Stacheln in windgeschützten Ecken, die als Schlafplätze dienen könnten, angebracht werden.
Diese Missachtung und Entwürdigung der »Deklassierten« korreliert mit zunehmender sozialer Ungleichheit, auf die die soziologische Forschung in den letzten Jahren aufmerksam gemacht hat. Die viel zitierte »soziale Schere« zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Armut wird sichtbarer, sowohl in ihrer absoluten Form wie bei Obdach- oder Wohnungslosigkeit als auch in ihrer relativen wie bei prekären Beschäftigungsverhältnissen, deren Lohn oft nicht zum Überleben reicht. Die materielle Armut ist mit der Abwertung und Stigmatisierung der Armen verbunden. Mantraartig wird in Medien und Politik das Bild der faulen, dicken, ungesunden und undisziplinierten Erwerbslosen gezeichnet, die auf Kosten der »hart arbeitenden« Bevölkerung leben würden. Nur wer sich darum bemüht, jede Arbeit anzunehmen – und sei sie noch so prekär –, wird als würdiges (da produktives) Mitglied der Gesellschaft angesehen.
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