Klasse erfahren
von Hannah Eberle
Von Sprossenwänden und Jogginghosen: Neue Veröffentlichungen zu Klassismus leuchten die subjektive Seite der Klassengesellschaft aus.
Wenn man sich nur anstrengt, kann man alles schaffen. Dieser so unwahre Satz markiert den Irrglauben, dass mit Findigkeit und Motivation jedem der Weg nach oben offen ist. Ein Irrglaube, der nicht nur fester Teil bürgerlicher Ideologie ist, sondern auch im Kern des sozialdemokratischen Versprechens steckt. Anna Mayr betrachtet die Verhältnisse in Die Elenden realistischer; berichtet, wie Kinder in sündteuren Einrichtungen getrennt von ihren Eltern untergebracht werden und diese belehrt werden, sie sollen doch »vorlesen« und nicht in »Jogginghose einkaufen« gehen. Alles nur, um den Kindern den Weg in ein normales Leben zu ebnen – anstatt die Eltern finanziell angemessen auszustatten.
Natürlich geht es manchmal nach oben, so Mayr, die selbst von unten kommt. Doch unsere individuellen Geschichten gehören »nicht uns alleine«. Die Gesellschaft braucht unterschiedliche Rollen im Klassengefüge, »um als Ganzes zu funktionieren«. Irgendjemand muss sich um den Müll kümmern. Als Reserve zur Verfügung stehen oder – wenn es keine Verwendung mehr für sie gibt – am Rand Platz nehmen. Diese Realität ist so simpel wie der Umstand, dass im Sportunterricht an der Sprossenwand, »wenn jemand hinaufwill, immer gleichzeitig jemand hinabsteigen« muss, so Olja Alvir im Sammelband Solidarisch gegen Klassismus, herausgegeben von Francis Seeck und Brigitte Theißl. Armut und Erwerbslosigkeit sind Elemente der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, keine bemitleidenswerten Einzelschicksale, für die es bloß mehr Verständnis braucht. Die Gesellschaft sieht für manche kein würdevolles Leben vor; deshalb sollte man sich eigentlich nicht rechtfertigen müssen und tut es doch immer wieder. Unterdessen wird häufig diskutiert, ob solche wie sie nicht doch »härter angefasst werden müssen«, so Mayr. Wenn man es nach oben schafft, hat das meist mit Glück zu tun, berichtet Zeynep Arslan in ihrer Klassenreise, herausgegeben von Betina Aumair und wiederum Brigitte Theißl: »[M]eine Volksschullehrerin, eine sehr reflektiere Frau, […] hat meiner Mutter gesagt, dass sie mich in das Bundesrealgymnasium schicken soll.« Ihre Geschwister »sind in der Hauptschule gelandet, für die sie eigentlich zu gut waren«.
Keines der drei Bücher braucht komplizierte soziologische Terminologie. Die Bücher erzählen Geschichten. Viele davon rücken längst überfällige feministische und migrantische Perspektiven auf Klassismus in den Fokus, man muss sie sich nicht nur »dazu denken«.
Der Begriff Klassismus vereint reale Ausgrenzung und erlebte Scham- und Unsicherheitsgefühle von Arbeiterinnen, die trotz mehrerer prekärer Jobs an dem, was als normaler Alltag gilt, nicht teilnehmen können. Von Menschen ohne Lohnarbeit, ohne Geld. Von Schülern, die nicht bei der Klassenfahrt dabei sein können. Von Menschen, die gekündigt wurden, weil ihre Fähigkeiten angeblich nicht mehr zeitgemäß waren. Von Menschen, die sich das Bier im Beisl nicht mehr leisten können. Klassismus umfasst auch Ausschlüsse aufgrund der Bildungsbiografie: Wer als Arbeiterkind zwar studiert, aber ohne vollgestopftes Bücherregal aufgewachsen ist, spürt bis zur Pension Druck und Verunsicherung, erzählt die ehemalige Professorin Christine Goldberg in ihrer Klassenreise. Wer in den Semesterferien arbeiten muss, findet nicht wie die Kids aus den Mittel- und Oberschichten Zeit zu reisen oder Bücher zu lesen.
Deshalb erfahren Menschen Klassismus auch dort, wo man glauben könnte, es wird an ihrer Überwindung gearbeitet: an den Universitäten. Der Aufstieg durch eine höhere, akademische Bildung galt lange als Symbol für die offenen Tore nach oben. Die Zahlen über die Herkunft von Studierenden, aber vor allem von Lehrenden an der Universität verweisen auf eine andere Realität. Wie die Beiträge in dem von Riccardo Altieri und Bernd Hüttner herausgegebenen (und gerade in zweiter Auflage erschienenen) Sammelband zu Klassismus und Wissenschaft zeigen, wirkt Klassismus auch dann, wenn man es geschafft hat. Der homo academicus wird sich mit der Karriere schwertun, wenn das Selbstvertrauen zum Delegieren und Anschaffen, der souveräne Auftritt am Rednerpult und das unerschrockene Drauflosschreiben, wenn es mal wieder ein Paper braucht, nicht von Kind an als eine selbstverständliche Möglichkeit vermittelt wurde. Die Titel der Beiträge erzählen jeweils Bände: »Und warum schreibst du das dann nicht?« (Corinna Widhalm), »Jemand wie ich« (Anna Scharmin Shakoor) oder »Ange[k/n]ommen? Der Habitus als letzte und unmittelbar erfahrbare Grenze« (Rosa Cattani).
Im Kapitalismus ist es weder alleine damit getan, etwas mehr Geld – wohl eher Sachleistungen – zu erhalten, noch damit, in einer kulturbeflissenen Umgebung aufzuwachsen. Nicht alle können es schaffen, und Klassismus als Begriff hilft, das zu verstehen. Es wäre (einmal mehr) an der Zeit, die Praxis der sozialen wie der politischen Arbeit mit dieser Erkenntnis zu aktualisieren: Obwohl viele linke Aktivistinnen Ungleichheit soziologisch und ökonomisch erklären können, ist man auch unter ihnen ohne Arbeit »unnormal«, schreibt Lena Hennes. Ausschluss und Stigmatisierung begegnen einem nicht nur im Jobcenter, sondern ebenso in der Linken, so eine der schmerzhaften Hauptaussagen im Sammelband Solidarisch gegen Klassismus. Fehlende materielle Ressourcen verunmöglichen manchen, immer »politisch aktiv« zu sein. Diejenigen mit der nötigen Zeit gestalten dann den Raum der politischen Auseinandersetzung, kritisiert Tanja Abou. Eine beispielhafte Geschichte mit Zündstoff liefert Arslan Tschulanov. Sie beginnt wie ein Traum der klassenkämpferischen Linken: Neben den angereisten Aktivistinnen und Aktivisten kommen zu einem Plenum auch Kinder von Arbeiterinnen aus dem nahe gelegenen Dorf, in dem eine Aktion stattfinden soll. Sie hatten bisher wenig Berührungspunkte mit dem linken und noch weniger mit einem bürgerlichen Milieu. Sie kennen weder die Codes noch »korrekte« Verhaltensweisen. Es dauert nicht lange und sie werden vom Plenum ausgeschlossen. Tschulanov möchte kein rassistisches oder sexistisches Verhalten verteidigen, genauso wenig behauptet er, dass alle Arbeiterkinder ein solches Verhalten zeigen würden. Vielmehr betont er, dass emanzipatorische Verhaltensweisen immer wieder zu besprechen sind.
Eine weitere Stärke von Solidarisch gegen Klassismus sind die Einblicke in Selbstermächtigung und praktischen Widerstand. Die Erwerbsloseninitiative Basta! aus Berlin erklärt etwa die Notwendigkeit, sich Zeit für »interne Solidarität« zu nehmen und existenzielle Sorgen »von der politischen Arbeit nicht [zu] entkoppeln«. Charlotte Hitzfelder
und Nadine Kaufmann berichten von einem anonymen Solidaritätskonto im Konzeptwerk Neue Ökonomie. Für Kolleginnen und Kollegen ohne Vermögen können so etwa Gesundheitskosten gezahlt werden. Einige der Beispiele verdeutlichen zugleich die Gefahr, individuelle Strategien als Lösung zu präsentieren, sie können die »Ungerechtigkeit […], die in der gesellschaftlichen Lohnverteilung« steckt, nicht aushebeln (wenngleich es einen existenziellen Unterschied ausmacht, ob man auf einen Solidaritätstopf zugreifen kann oder nicht).
Worin unterscheidet sich die »Differenzachse« Klassismus von der des Rassismus, Ableismus oder Sexismus – oder tut sie das nach Meinung der Autorinnen gar nicht? Rassismus und Klassismus liegen – intersektional gedacht –
Ideologien der Ungleichheit zugrunde. Strukturell muss ihnen aber teilweise anders begegnet werden. Eine Person of Color kann sich unabhängig von ihrer Position im Klassengefüge rassistischen Anfeindungen nicht entziehen. Ihr begegnet Rassismus als Reinigungskraft oder als Professorin. Antiklassistische Strategien können hingegen individuelle Fluchtpunkte umfassen – »Aufstieg« ist eben gleichermaßen Irrglaube wie (relative) Realität. In Abhängigkeit von Glück und Gesundheit, von sozialem und kulturellem Kapital wirkt die Gewalt des Klassismus unterschiedlich. Wobei gerade Nicht-Weißsein Klassismus verstärkt. »Warum [ist] ein sozialer Aufstieg überhaupt […] erstrebenswert«, gibt Olja Alvir in Solidarisch gegen Klassismus zu bedenken. Die Frage bleibt. Natascha Strobl zitiert im Vorwort zu Klassenreise erhellend Didier Eribon: »Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht.« Einer Wahrheit, die zu Konkurrenz und Steigerung der Profitrate erzieht. Einer Wahrheit, die das Glück in gesundem Brokkoli anstatt in fettiger Familienpizza verspricht; und in der die Fähigkeit, mit einem Hartz-IV-Satz zu überleben, »keinen allgemein anerkannten Wert« besitzt – über Banales im Büro mitreden zu können aber schon.
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