Ostersonntag, 1. April 1945: Die Vorhut der Roten Armee ist im niederösterreichischen Gloggnitz einmarschiert. Noch tobt die Schlacht um Wien, der Krieg ist keineswegs zu Ende. Mit den Stationen Köttlach, Hochwolkersdorf und Schloss Eichbüchl wird Dr. Karl Renner, der zunächst für den Schutz der Zivilbevölkerung intervenierte, an höhere Kommandostellen der Dritten Ukrainischen Front weitergereicht; der Kontakt zu Stalin funktioniert rasch und gut. Renner leitet seinen persönlichen Brief an Generalissimus Stalin, datiert mit 15. April 1945, Wiener Neustadt, mit einem Rückblick ein: »Sehr geehrter Genosse! In der Frühzeit der Bewegung haben mich mit vielen russischen Vorkämpfern enge persönliche Verbindungen verknüpft, es war mir jedoch leider nicht vergönnt, Sie, werter Genosse Stalin, persönlich kennen zu lernen. Mit Lenin traf ich zuerst auf der Stockholmer Friedenskonferenz zusammen, mit Trotzki verkehrte ich durch die Jahre seines Wienaufenthalts ständig, mit Rjasanow arbeitete ich gemeinsam in der Wiener Arbeiter-Zeitung […] Daß die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung.« Dieses erstaunliche Schlüsseldokument zur Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs war in seiner vorgetäuschten Naivität eine gezielte und erfolgreiche Chuzpe. Lenin hatte im Juni 1917 durchaus anderes vor, als die Stockholmer Konferenz zu besuchen, Trotzki, der Renner für das Gegenteil eines Revolutionärs hielt und einen Operettenkanzler nannte, war auf Stalins Befehl 1940 in Mexiko ermordet worden, und tragisch war das Schicksal von David B. Rjasanow, dem bedeutendsten Quellenforscher zum Werk von Marx und Engels, der von 1920 bis 1930 die Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe leitete. 1931 aus der Partei ausgeschlossen und nach Saratow verbannt, wurde Rjasanow als Opfer des Terrors Stalins am 21. Jänner 1938 erschossen, erst 1958 rehabilitiert. Diese Widersprüche überspielt die Inschrift des Gedenksteins für Karl Renner beim Schloss Eichbüchl: »Es war im Frühlingsatemwehen / Noch trug das Österreicherland / In Unfreiheit des Krieges Last / Da hat zu seinem Auferstehen / Karl Renner hier mit eigener Hand / Ein erstes Manifest verfasst […].«
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