»Ich wohne in einer Kommune? Was heißt Kommune!«, schreibt der Fürsorgezögling Herbert W. in einem Bericht vom 17. Juni 1971. »Kommune, junge Leute, welche sich zusammen gefunden haben und sich durch Selbstverpflegung und Kameradschaft die Zukunft sichern.« Spürbar geht es um Aufbruch im Leben von Herbert W., auch wenn die Verunsicherung in seinen Zeilen deutlich mitschwingt. »Ich bin Arbeiter und die restlichen Studenten. Anfangs dachte ich, ich könnte mich nicht einleben und meine Kollegen würden, da ich ja von einem Erziehungsheim komme, vielleicht Abstand halten. Das ist hier überhaupt nicht der Fall.«
Herbert ist gerade dabei, das Stigma seiner Vorgeschichte zu überwinden. Seit drei Wochen lebt er in einem für damalige Verhältnisse gewagten Lebens- und Sozialexperiment: Unter der Trägerschaft des Sozialhilfswerks der Evangelisch-Methodistischen Kirche in der Linzer Spattstraße hat eine Gruppe von linken Studentinnen und Studenten einen Zögling des berüchtigten Erziehungsheims Linz-Wegscheid aufgenommen, um ihm ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Die in der Schubertstraße gelegene, als »Rote Lokomotive« bekannte WG entwickelte sich seit den späten 1960er Jahren zum abendlichen Treffpunkt der alternativen Jugendkultur. »Wenn man da hineingegangen ist, hing ein riesiges Plakat von Karl Marx«, erinnerte sich die mit der Betreuung der Heiminsassen befasste Psychologin Marianne Gühlstorf 2006 in einem Gespräch mit dem Linzer Sozialhistoriker Michael John. »Wir haben uns diese WG angesehen und dann haben wir ihnen zuerst einmal einen Burschen zugewiesen, das war ein eher leichter Fall.«
Leichte und schwere Fälle gab es im Heim Linz-Wegscheid auf beiden Seiten, unter den Betreuern wie unter den Jugendlichen. Noch heute erstaunt die Gleichzeitigkeit des WG-Experiments mit jenen Ereignissen, die das Heim in die überregionalen Schlagzeilen brachten: der, wenn man so will, kurze Sommer der Freiheit am südwestlichen Stadtrand von Linz.
Fast zeitgleich mit der Übersiedlung von Herbert W. in die »Rote Lokomotive« ereignete sich im Heim ein Vorfall, der die andere Seite der in Wegscheid praktizierten Pädagogik aufzeigte: Ein Jugendlicher hatte in der Nacht versucht, über den das Heim umgebenden Stacheldrahtzaun zu klettern. Er war aus dem »Besinnungsraum« geflüchtet, in den er nach einer Verfehlung eingesperrt worden war. Als er am Stacheldraht angelangt war, wurde er von sogenannten Kapos heruntergerissen – jenen Mitzöglingen, die von den Erziehern als brutale Sanktionsorgane eingesetzt wurden. »Der Stacheldraht hat seine Arme aufgerissen. Er war ganz blutig, wurde mit der Rettung weggebracht.« So beschrieb der 1954 geborene Alfred Hinterholzer im Katalog zur Ausstellung Wer war 1968?, die 2018 im Linzer Stadtmuseum Nordico zu sehen war, jenen Moment, in dem ihm und anderen Wegscheid-Insassen klar geworden war: »Jetzt ist es genug, wir müssen gegen diese Tyrannei etwas unternehmen.«
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