Der Gerichtsfall Jahoda
von Natascha Strobl
EUR 26,90 (AT), EUR 26,90 (DE), CHF 37,50 (CH)
Bekannt wurde Marie Jahoda (1907–2001) vor allem durch ihre in Zusammenarbeit mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel entstandene Studie Die Arbeitslosen von Marienthal (1933), die sie zur Koryphäe der Sozialforschung machte. Jahoda war aber nicht nur brillante Wissenschafterin, sondern auch Antifaschistin und Sozialistin. Als der Austrofaschismus in Österreich an die Macht kam, war es für Jahoda selbstverständlich, Widerstand zu leisten. So gehörte Jahoda zu den wichtigsten Organisatorinnen der illegalen Sozialdemokratie, den Revolutionären Sozialisten. Für ihre Arbeit im Widerstand wurde sie verhaftet und verbrachte zwischen 1936 und 1937 neun Monate im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung flüchtete Jahoda ins Exil.
Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler machen seit 2017 in einem kommentierten Editionsprojekt die Lebens- und Schaffensgeschichte Marie Jahodas in Originaltexten zugänglich beziehungsweise arbeiten diese wissenschaftlich auf. Der nun vorliegende vierte Band rekonstruiert zum ersten Mal umfassend den Gerichtsprozess Jahodas nach ihrer Verhaftung im Austrofaschismus.
In den Beiträgen werden sowohl die Verteidigungsstrategie Jahodas als auch die Instrumente von Polizei und Justiz sowie der Umgang mit den Opfern des Austrofaschismus in der Nachkriegszeit behandelt. Jahodas Festnahme wird etwa anhand des 450-seitigen Gerichtsakts auf der einen und Jahodas autobiografischen Texten sowie späteren Interviews auf der anderen Seite rekonstruiert – mit dem Verweis, dass keine der Quellen die Realität wiedergebe und eine wissenschaftliche Perspektive für eine Einordnung des Geschehenen unabdingbar sei. Andreas Kranebitters Beitrag betrachtet die staatliche Repression und wie diese im Austrofaschismus durch Gesetze implementiert wurde. Daraus ergibt sich unter anderem die schmerzlich aktuelle Frage, wie der Rechtsstaat und dessen Werkzeuge, etwa Polizei und Justiz, strukturiert und gesetzlich verankert sein müssen, damit sie unabhängig, demokratisch und frei agieren können. Christian Fleck wiederum widmet sich dem politischen Engagement Jahodas und ihrem Leben im Exil. Gibt es so etwas wie wissenschaftliche Neutralität überhaupt? Fleck geht der Frage nach, ob eine Wissenschafterin nicht nur ein zoon politikon sein kann, sondern, wie er es nennt, auch ein homo politicus, also ein Mensch, der die Gesellschaft aktiv gestalten will. Den Abschluss bilden die Erinnerungen Lotte Bailyns, der Tochter Jahodas und Lazarsfelds, an ihre Kindheit in Wien. Der Band wird ergänzt durch zahlreiche Abbildungen von Zeitungsblättern, Auszügen aus Gerichtsakten, Aufzeichnungen Jahodas und Flugblättern.
Den Herausgebern und Beitragenden ist es gelungen, mit ihrer bisher vierbändigen Buchedition die Relevanz und Aktualität Marie Jahodas sowohl als Wissenschafterin als auch als Widerstandskämpferin zu unterstreichen. Gerade Akteneinsicht lädt dazu ein, die Gegenwart an der Vergangenheit zu messen und sie in Bezug zu setzen. Der Band führt den Leserinnen vor Augen, wie zerbrechlich Demokratie und Rechtsstaat sind und wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Der penibel und vielschichtig aufgearbeitete Gerichtsfall Jahoda ist dafür ein wertvolles Beispiel.
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