Konstitutiver Antikommunismus

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 4, April 1972


475 wörter
~2 minuten

Dass ein »Ereignis« häufig erst in der Nachbetrachtung Kontur bekommt, als solches überhaupt erkennbar wird, ist ein altbekanntes Problem jeder historischen Rekonstruktion. So wurde der »Radikalenerlass« in der BRD vom 28. Jänner 1972 – siehe den Beitrag von Georg Fülberth in dieser Ausgabe – im Wiener Tagebuch nicht unmittelbar als jene Zäsur wahrgenommen, als die er uns heute gilt. Erst in der Aprilausgabe des Jahres 1972 findet sich eine Intervention von Heinz Rudolf Sonntag, und auch in dieser wird der Beschluss vom Jänner eher nebenbei und als symptomatischer Ausdruck einer tieferliegenden Struktur analysiert, nämlich des »konstitutiven Antikommunismus« der BRD. Heinz Rudolf Sonntag (1940–2015) wurde Anfang der 1970er Jahre vor allem als publizistischer »Übermittler« der revolutionären Erschütterungen in Lateinamerika bekannt. Er sollte bald dauerhaft nach Lateinamerika auswandern und sich in Venezuela als Soziologe etablieren. Er gehörte später zu jenen »Alt-Linken«, die sich mit scharfer Kritik gegen Hugo Chávez’ Bolivarische Revolution positionierten.

Heinz Rudolf Sonntag

Zeit der Formierer
Kritisches zu bundesdeutschen Ereignissen und Tendenzen


»Die Bundesrepublik Deutschland ist in der Zeit des Kalten Krieges geboren. Einer ihrer Geburtshelfer ist der militante Antikommunismus jener Zeit. Er hat ihre Geschichte zutiefst geprägt. [...] Natürlich ist der Antikommunismus nicht der Deus ex machina, zu dem ihn liberale Kulturkritiker in letzter Zeit gern hochstilisieren. Er gehört dem Überbau einer Gesellschafts›ordnung‹ an, deren innere Widersprüche sie so zerbrechlich gemacht hatten, daß ein sehr starkes ideologisches Ferment notwendig war, damit sie nicht zusammenbrach.

[...]

Die letzten Jahre des politischen Geschehens in der Bundesrepublik müssen auf dem Hintergrund ihrer Gründungsgeschichte gesehen werden. [...] In ihr wiederholen sich Mechanismen und Denkstrukturen, die schon einmal dazu führten, daß die präventive Konterrevolution des Faschismus sich massenhaft durchsetzen konnte.

Das liegt daran, daß im Gefolge jener Rebellion [seit 1967, Anm.] für einige Gruppen der Bevölkerung (ihren Umfang sollte man nicht zu gering einschätzen), für viele Studenten, Intellektuelle und Arbeiter ein Prozeß der Enttabuisierung einsetzte, was den Sozialismus und den Kommunismus anging. [...] Die Reaktion des Systems konnte nicht ausbleiben und ließ nicht lange auf sich warten; daß es eine sozialdemokratische und eine liberale Partei sind, die es derzeit tragen und ihm politischen Ausdruck verleihen, ist wohl eher eine Ironie der Geschichte. 

[...]

Ereignisse, die anders isoliert stehen würden, gewinnen in dieser Perspektive ihre innere Logik. [...] [D]aß die Ministerpräsidenten der Länder zusammen mit dem Bundeskanzler ein Dekret beschließen, das Mitgliedern ›radikaler Organisationen‹ den Eintritt in den öffentlichen Dienst verweigert, deutet darauf hin, daß die grundgesetzlichen Bestimmungen immer enger gefaßt, immer mehr formalisiert werden [...]. Andere Maßnahmen flankieren die Reaktion.

[...] 

Man kann geradezu von einem ›neuen Antikommunismus‹ sprechen. Er fand einen frühen, damals nicht zeitgemäßen Ausdruck in dem Slogan des ehemaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard von der ›formierten Gesellschaft‹. Genau darum geht es heute. Die Formierungstendenzen sind entschieden auf dem Vormarsch.«
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