Die Literaturwelt braucht Bibliodiversität

von Jörg Sundermeier

Illustration: Aelfleda Clackson

Einige ungeordnete Gedanken zur Absage der Leipziger Buchmesse, zur Situation der Buchbranche und zu Fragen der Selbstorganisation.


979 wörter
~4 minuten

Funktioniert Wahrsagerei? Anfang Februar war – auch hinter den Kulissen – noch unklar, ob im März die Leipziger Buchmesse stattfinden wird; am 9. Februar wurde sie schließlich abgesagt. Torsten Casimir, Chefredakteur des wichtigsten deutschen Buchbranchenmagazins, Börsenblatt, wusste allerdings bereits zuvor: »Als Sachsens Staatsregierung versprach, die Buchmesse dürfe stattfinden, wurde rasch klar, dass sie eher nicht stattfinden wird«, schrieb er auf der Börsenblatt-Website. Anlass für diese Gewissheit gab ihm vor allem die Mitteilung, dass die Münchner Penguin Random House Verlagsgruppe, die dem Bertelsmann-Konzern aus Gütersloh gehört, nicht an der Messe teilnehmen werde. Weitere Unternehmen überlegten, ebenfalls abzusagen, verkündete Casimir, nannte jedoch lediglich Konzerne beim Namen.

Nun ist es im eher eilmeldungsfreien Literaturbetrieb unüblich, eine Messe vor der Entscheidung der Veranstalter abzusagen, und auch wenn Casimir gute Argumente für seine Einschätzung hatte, verdächtigten ihn einige, dass er im Auftrag der Frankfurter Buchmesse agierte, die – wie das Börsenblatt – dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels gehört. Doch es steht kaum zu befürchten, dass Casimir die ostdeutsche Konkurrenz in den Ruin schreiben sollte – der behäbige Literaturbetrieb ist wenig kriegerisch. Näher liegt, dass Casimir allein aufgrund der Nachricht, dass der Münchner Verlagsriese von Gütersloher Gnaden nicht zur Messe kommt und andere Konzerne dergleichen erörtern, darauf schloss, dass das Abhalten der Buchmesse sinnlos sei ohne jene Unternehmen, die einen Großteil ihres Kulturindustrieabfalls ohnehin andernorts verklappen.

Dass die schiere Zu- oder Absage von Konzernverlagen sinnstiftend für eine Buchmesse sein soll, kann nur auf den ersten Blick irritieren. Zu sehr hat man sich im Literaturbetrieb daran gewöhnt, dass die großen »Ideologieproduzenten« (wie sie der Soziologe und Verlagslektor Frank Benseler nannte) den Takt vorgeben.

Selbst entschieden linke Autorinnen verfallen dem Mythos von der Strahlkraft der großen Verlagshäuser, und dies nicht erst dann, wenn die Verlagsagenturen mit hohen Honorarvorschüssen locken. Gerade droht durch die Fusion des zweitgrößten französischen Medienkonzerns Vivendi (zu dem die Verlagsgruppe Editis gehört) mit dem größten, Lagardère (Verlagsgruppe Hachette Livres), ein Verlagsimperium zu entstehen, das den bisher gut funktionierenden mittelständischen Verlagen Frankreichs das Wasser abgraben könnte. In Lateinamerika ist es längst Usus, dass die spanisch- und portugiesischsprachigen Abteilungen der Großkonzerne allen dortigen Verlagen durch aggressive Preispolitik nur noch Nischenexistenzen zubilligen. Der entfesselte, unbeherrschbar gewordene Kapitalismus erschüttert auch die westliche Buchwelt, die sich in ihren Vereinen und Clubs noch immer ständisch organisiert sieht und in ihren Sonntagsreden über kulturelle Werte, nie aber ökonomische Gegebenheiten spricht.

Unter den vielen Reaktionen auf den Artikel von Torsten Casimir fand sich ein bemerkenswerter Leserkommentar des Buchhändlers und Branchenfunktionärs Michael Lemling. Er schrieb: »Die großen Verlagsgruppen verlieren ihr Interesse an der Schaffung einer gemeinsamen großen Branchenöffentlichkeit. Dieser Punkt in Torsten Casimirs Weckruf scheint mir der wichtigste zu sein: ›Die Großen machen sich von traditionellen Infrastrukturen der Branche mehr und mehr unabhängig.‹ Das spürt jetzt auf bittere Weise die Leipziger Buchmesse und es wird die Frankfurter schon bald ebenso treffen, die Buchmesse wie den Börsenverein.« Anzumerken sei hier noch, dass sich der Buchhandelsgigant Amazon erst gar nicht dem österreichischen oder deutschen Buchhändlerverein angeschlossen hat.

Seine Kritik sieht Lemling – zurecht – unter anderem darin begründet, dass viele Verlage (auch unabhängige) zwar wegen der Corona-Pandemie aus Rücksicht auf Mitarbeiter Messen absagen, von Buchhändlerinnen jedoch erwarten, dass sie deren Bücher verkaufen. Von Vertreterinnen, Druckern, Putzdiensten, Lieferdiensten erwarten die Verlage ebenso, dass sie ihren Job machen. Damit soll nicht die Pandemie kleingeredet werden – alle Ängste sind berechtigt, niemand sollte gezwungen werden, auf eine Messe zu gehen, auf die er oder sie nicht will. Doch auch die Autoren sollten sich nicht geschützt vor Verwertungslogik wähnen. Bei der Absage von Penguin Random House betonte etwa Rebecca Prager, Leiterin der Unternehmenskommunikation, man habe die Messeleitung gebeten, der Verlagsgruppe in diesem Jahr dennoch eine Teilnahme an »Leipzig liest« zu ermöglichen, »diesem großartigen Lesefest«. Kurz: Leistungen der Leipziger Messe, die wesentlich von der Öffentlichkeit finanziert werden, will man wahrnehmen. Oder: Gewinne sollen den Unternehmen zufließen, die Kosten für Kultur und Wissenschaft aber soll die Gesellschaft tragen. In der Pandemie hat sich eine derartige ökonomische Scheinvernunft vollends offengelegt.

Nicht nur das starke Interesse der Großverlage an »Leipzig liest« zeigt, dass es Zusammenkünfte und intellektuellen Austausch braucht. Denn auch wenn größere Verlage zweifelsohne über größere Marktmacht verfügen, sparen sie doch ihre Lektorate so zusammen, dass sie politische, kulturelle oder wissenschaftliche Entwicklungen oft erst spät wahrnehmen, später jedenfalls als unabhängige Verlage. Um das, was dort entsteht, im Blick zu behalten, brauchen Großverlage diesen intellektuellen Austausch. Wo nur noch Fernsehfiguren über Bestsellerautorinnen sprechen, entwickelt sich nichts. Doch auch die kleineren Verlage sind »Ideologieproduzenten«. Auch Lektorinnen in linken Verlagen sind lohnabhängig und alle Geschäftsmodelle auf Gewinnerwirtschaftung hin ausgelegt.

Vor einem Monat schrieben an dieser Stelle Andrea Grill und Jana Volkmann unter dem Titel »Ohnmacht und Tanz« über ein historisches Treffen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Wien, die vor 40 Jahren ihre Rolle in der Gesellschaft debattieren und kulturpolitische Forderungen formulieren wollten. »Wie sähe das heute aus?«, fragten die TAGEBUCH-Autorinnen.

Die erwähnten lateinamerikanischen Nischenverlage haben vor rund 20 Jahren den Begriff der Bibliodiversität geprägt, der mehr umfasst als nur kulturelle Vielfalt in Verlagsprogrammen. Frank Benseler wiederum initiierte mit Hannelore May und Walter Boehlich vor über 50 Jahren die Treffen der »Literaturproduzenten«, auf denen sich neben den Lektorinnen und Autoren auch Drucker und Buchhändlerinnen austauschten. Im kommenden Jahr soll in Berlin ein Treffen unter dem Titel »Literaturproduzent*innen« stattfinden, das daran anknüpft. Literatur und Wissenschaft brauchen Austausch, Kollektive und Kooperation. Ohne diese ist die Bibliodiversität bedroht. Was also tun? Anfangen.

»Zu sehr hat man sich im Literaturbetrieb daran gewöhnt, dass die großen ›Ideologieproduzenten‹ den Takt vorgeben.«
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