Die erste Hälfte der 1980er Jahre erlebte eine der größten Friedensbewegungen des 20. Jahrhunderts. Sie richtete sich gegen die Bedrohung durch Atomwaffen, aber auch gegen den zu dieser Zeit erneut an Schärfe gewinnenden Kalten Krieg. Gesellschaftlich und ideologisch war sie vielschichtiger als ihre Vorläufer, auch in den Ländern des realen Sozialismus fand sie ein starkes Echo. In der Mai-Ausgabe 1982 ließ das Wiener Tagebuch verschiedene Vertreter der Friedensbewegung zu Wort kommen. Unter anderen Stefan Heym, einen „in der DDR lebenden Schriftsteller“, wie es in der redaktionellen Präambel hieß – eine Formulierung, die Heyms doppelte Rolle von Zugehörigkeit und Dissidenz zur DDR markant erfasste. In der abgedruckten Rede versuchte Heym den Militarismus an seiner Sprache moralischer Berechtigung zu entlarven sowie Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede in der militärischen Logik in Ost und West aufzuzeigen. Vor allem wird deutlich, in welchem Maße Zeitgenossen von der Angst vor einem Atomkrieg beherrscht waren, eine Bedrohung, die nach 1989 für 30 Jahre in den Hintergrund gerückt zu sein schien, in jüngster Zeit aber mit Wucht wieder fühlbarer wurde.
Stefan Heym
Es gibt keine gerechten Kriege
»Das Groteske sind die Moralbegriffe, mit denen das Ganze behängt wird – wenn in Zusammenhang mit so fürchterlichen Waffen und so fürchterlichen Plänen von Moral überhaupt die Rede sein kann.
Nach dieser Moralauffassung gibt es gute und böse Atomwaffen, gerechte und ungerechte, solche, die der Erhaltung des Friedens, und andere, die kriegerischen Zwecken dienen. Welches ist nun aber die gute, menschenfreundliche, gerechte und brave Atomwaffe; die Pershing II oder die SS 20? Das Trident-U-Boot oder eines der Whisky-Klasse [...]?
[...]
Absurdes Theater.
Es existiert aber tatsächlich ein Unterschied, und ein sehr gravierender, zwischen sowjetischen und westlichen Nuklearwaffen. An den sowjetischen macht nämlich niemand einen Profit.
Korruptionsfälle ausgenommen, gibt es überhaupt in keinem Land des real vorhandenen Sozialismus irgendwelche Privatpersonen, die in der Industrie Profite machten, und die sozialistische Rüstungsindustrie, ihren Export ausgenommen, ist sowieso ein Verlustgeschäft, für das die Arbeiter zahlen müssen. Aber es ist auch bekannt, daß außer dem Privatprofit noch andere Motive existieren, welche die Menschen veranlassen, so oder so zu handeln, und ebenso ist bekannt, daß im real vorhandenen Sozialismus mehr reale Interessengruppen vorhanden sind, die dem sogenannten Military-Industrial-Complex im Westen deutlich ähneln. Macht, persönliche, organisatorische, militärische Macht ist eine ungeheure Verführung, und wenn ich gar durch die Drohung mit der Atombombe erreichen kann, daß die vorhandenen Machtstrukturen in meinem Interessenbereich nicht angetastet werden, so habe ich ein Motiv für nukleare Rüstung, das dem des Privatprofits mehr als entspricht.
Es gibt keine gerechten Kriege mehr. Es kann sie nicht geben, weil es keine gerechten Atombomben gibt. Die Atombombe trifft Gerechte wie Ungerechte, gleichgültig, welch mobile Ziele der einzelne Staatsmann mit ihr verfolgen mag und welche Kosenamen er ihr gibt. Die Bombe ist das Tödlichste, ganz gleich, mit welcher Absicht sie eingesetzt wird, offensiv oder defensiv oder präventiv, und zu welchem Zeitpunkt, als Erstschlag oder Zweitschlag oder Letztschlag. Die Bombe ist der Feind. Die Bombe, wer auch das Sagen über sie hat, muß weg, wenn wir leben wollen.
Darum also die Friedensbewegung.«
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