Kibbuzim und Revolution

von Andreas Pavlic

469 wörter
~2 minuten
Kibbuzim und Revolution
James Horrox
GELEBTE REVOLUTION
Anarchismus in der Kibbuzbewegung
Graswurzelrevolution, 2021, 259 Seiten
EUR 25,50 (AT), EUR 24,80 (DE), CHF 34,90 (CH)

Bereits 2009 erschien auf Englisch das Buch A Living Revolution über das Wechselverhältnis von Kibbuzbewegung und Anarchismus. Sein Autor, James Horrox, hatte in den 1990er Jahren selbst in einem Kibbuz gelebt. Nun hat der Verlag Graswurzelrevolution diese wichtige Studie über ein vergessenes Kapitel jüdischer und anarchistischer Geschichte einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Einteilen lässt sich das Buch in drei Themenbereiche: die Entstehungsgeschichte der Kibbuzim in Palästina und deren historische Entwicklung; die Strukturen und Prinzipien dieser Gemeinschaften; die aktuellen Auseinandersetzungen um die Kibbuzbewegung und Fragen nach ihren emanzipatorischen Potenzialen.

Am Beginn standen, wie so oft in der jüdischen Geschichte, Verfolgung und Vertreibung. 1881 kam es im zaristischen Russland zu einer Welle blutiger Pogrome, die eine Fluchtbewegung unter anderem in die osmanische Provinz Palästina zur Folge hatte. In dieser Zeit verbreiteten sich in Europa nicht nur zionistische Ideen, sondern auch sozialistische oder religiös motivierte Siedlungs- und Kommunenversuche. Beides wurde in jüdischen Organisationen und Verbänden viel diskutiert. Den ersten Kibbuz, Degania (Kornblume), gründeten 1910 junge Immigranten aus Belarus. Sie lehnten die bisherigen Siedlungen und Höfe ab, in denen es »jüdische Aufseher, arabische Landarbeiter und Wachen, die aus Beduinen bestanden«, gab. Im Gegensatz dazu schwebte ihnen eine »eine kooperative Gemeinschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete« vor. Diese bildeten sich in der Folge zwar ausschließlich aus Jüdinnen und Juden, die aber mit der arabischen Bevölkerung der Umgebung kooperierten. Ein wichtiger Ideengeber der ersten Kibbuzim war der russische Anarchist Peter Kropotkin. In seiner Theorie verband er kommunistische Wirtschaftsformen mit anarchistischen Gesellschaftsvorstellungen – also Gemeineigentum der Produktionsmittel, Aufhebung des Lohnsystems und der Trennung von Hand und Kopfarbeit sowie föderativen Zusammenschluss freier Kommunen. Ein weiterer Ideengeber war Gustav Landauer, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Siedlungsgründungen aufgerufen hatte und dessen Ideen in den 1910er und 1920er Jahren über Martin Buber eine gewisse Verbreitung in Palästina fanden.

James Horrox’ Anliegen ist es, zu betonen, dass es in dieser frühen Phase nicht um eine Staatsgründung ging, sondern um ein anderes Gesellschaftsmodell: »Der gemeinsame Ansatz vieler in Palästina ankommender Gruppen in den zwanziger Jahren war der Versuch, den Jischuw in ein staatenloses Gemeinwesen autonomer Gemeinschaften zu transformieren, das nur wenige nicht kollektive Alternativen beinhalten sollte, wenn überhaupt.«

Dieser Wille zur Transformation zeigt sich auch in dem Versuch, das Kollektiv grundlegend zu denken – von der Entscheidungsfindung, die meist im Speisesaal erfolgte, über die Abschaffung des Privateigentums und des Lohnsystems bis hin zur Kindeserziehung. Als Über-Ich fungierten soziale Anerkennung und sozialer Druck. Während die Kibbuzim im Laufe der Zeit an Attraktivität verloren, finden sich im heutigen Israel wieder neue Versuche der Selbstorganisation (wie jene aus der jüdisch-äthiopischen Minderheit heraus). Dieser Blick von der Vergangenheit in die Gegenwart der Kibbuzim inspiriert – und Inspiration ist ein Rohstoff für eine andere Zukunft.

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