Nach der Bekanntgabe des neuen Sturm-Trainers im Juni 1994 herrscht etwas Wehmut. Zu gern hätte der Schreiber dieser Zeilen den von ihm als Kind bewunderten und via Medien kolportierten Ex-Teamspieler und FC-Zürich-Trainer Kurt Jara auf der Trainerbank der »Gruabn« sitzen gesehen. Der Name Ivan »Ivica« Osim ist zwar ein Begriff, aber die Tragweite dieser von Sturm-Manager Heinz Schilcher gefällten Entscheidung sollte erst noch deutlich werden. »Wie habt ihr das geschafft? Ein Welttrainer in Graz! Osim wird die Liga aufmischen«, prognostiziert etwa ein befreundeter Sportjournalist, der weiland selbst österreichischer Fußball-Nationalspieler war. Ein Raunen geht durch die Szene, Osim bei Sturm, das ist so, als würde heute Kylian Mbappé bei SCR Altach unterschreiben. »Wie habt ihr das geschafft?« Schilcher spielte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gemeinsam mit Ivica Osim bei Racing Straßburg und war dem Bosnier freundschaftlich verbunden. Dieser sucht die räumliche Nähe zu seiner im Jugoslawienkrieg belagerten Heimatstadt Sarajevo. In Gedanken bei Familie und Freunden formt er knapp 600 Kilometer von Scharfschützen und Artilleriefeuer entfernt aus durchschnittlichen Fußballern ein Team, das bald europaweit Aufsehen erregen sollte. Als Osim nach seiner Ankunft in Graz erstmals die Sturmspieler beim Training in der »Gruabn« beobachtet, soll er Schilcher gefragt haben: »Welche Sportart spielen die da?«
Anekdoten sind ständige Begleiter in der Lebenswelt von Ivica Osim. Etwa die: Als Sturm-Boss Hannes Kartnig seinen neuen Trainer mit einem teuren Luxus-Mannschaftsbus überraschte, machte dieser eine abwertende Handbewegung: »Bus schießt keine Tore.« Wohl aber Mario Haas, Markus Schupp oder Arnold Wetl. Schon 1995 haben Osims junge Wilde das auf Offensive und Rasanz ausgelegte Kurzpassspiel ihres Maestros in ihr Repertoire aufgenommen, was noch fehlt, ist die Konstanz. Gegen den Linzer ASK etwa liegt Sturm im Mai in der Spielminute 76 mit 0:3 zurück. Ivica Osim gibt später zu, zu diesem Zeitpunkt bereits »über Ausreden für die Presse« nachgedacht zu haben. Drei Tore einer fulminant aufspielenden Sturm-Mannschaft in nur acht Minuten wehren die Niederlage schließlich ab und entfachen eine Hexenkesselatmosphäre, eine Ahnung dessen, was unter einem Trainer Ivica Osim möglich sein könnte. Vizemeister schon im ersten Jahr. Tendenz ständig steigend. Jara? Ist vergessen.
Markenzeichen Halteschleife
29. Mai 1999. Sturm Graz feiert mit einem 3:0-Heimsieg über FC Tirol den zweiten Meistertitel. Die Fans sind von Präsident Hannes Kartnig mit T-Shirts in Puntigamerblau ausgerüstet, die Spieler üben sich für eine rauschende Doublefeier in Jubeltrauben. Der, der dies möglich gemacht hatte, ist bereits zurückgekehrt in die Katakomben des Arnold-Schwarzenegger-Stadions. Der Triumph ist da, Osim ist weg. »Ivan, Ivan«-Rufe sind zu hören, erst aus der Kurve, bald aus allen Sektoren. Osim geht doch einige Schritte in Richtung Rasen und dankt im ausverkauften Stadion mit einer erhobenen Hand. Kurz nur, verhalten, fast schüchtern. Eine kurze Armbewegung, ähnlich jener, als würde er sich an der Halteschleife einer Straßenbahn der Grazer Verkehrsbetriebe festhalten. Eine solche Halteschleife ist extra für ihn unter dem Dach der Betreuerkabine am Spielfeldrand montiert worden. Sie dient als Stütze für den angegriffenen Bewegungsapparat des knapp 1,90 Meter großen Bosniers. Osim hat Knieprobleme, kann nicht lange stehen. »Aber ich kann schlecht mit den Spielern reden, wenn ich sitze«, sagt er. Die Halteschleife wird zum Markenzeichen, erst ist sie rot (nicht optimal, weil die Vereinsfarbe des Stadtrivalen GAK), später schwarz. Osim bedankt sich also, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen scheint ihm unangenehm zu sein, er wird von seinen Spielern gepackt, auf Schultern getragen und mit Champagner geduscht. »Ivan, Ivan«. Er trocknet sich ab, richtet das Haar, blickt wie so oft mürrisch drein, und doch huscht ihm zwischendurch ein Lächeln über das Gesicht. »Ich kann mich nicht mehr freuen. Freude gibt es nach all dem, was in meiner Heimat passiert ist, nicht mehr«, hat Osim einmal gesagt. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Spätherbst 2001, mit Ivica Osim in Sarajevo. Sturm Graz reist zu einem Freundschaftsspiel gegen FK Željezničar Sarajevo an, Amar Osim, der Sohn des Sturm-Trainers, trainiert gerade den bosnischen Traditionsverein. Ein Duell Vater gegen Sohn. Im Sturm-Mannschaftsbus wird Karten gespielt, die mit Zusatztafeln »osim« (»ausgenommen«) beschrifteten Verkehrsschilder erheitern die Gemüter der Kicker. »Dass er so berühmt ist, unser Trainer, wussten wir nicht«, sagt einer und erntet Gelächter. Die Fußballer blicken auf die in Stadionnähe auf Hausfassaden immer noch vorhandenen Spuren des Krieges, die heitere Stimmung kippt. Socken, Bettwäsche und Željezničar-Fantrikots neben hunderten Einschusslöchern: Der Balkon in der Wohnsiedlung im Stadtteil Grbavica gleicht auch sechs Jahre nach Kriegsende einem Sieb. Unweit davon stehen Hotelruinen, zerschossene Fabrikanlagen und ein desolater Wolkenkratzer, der einst Teil des Parlamentsgebäudes war. »Die Leute werden nie vergessen, was sich hier abgespielt hat«, sagt Osim, der zu dieser Zeit als parteiloser »Ehren-Vizebürgermeister« (er soll mithelfen, dass Sarajevo 2010 die Olympischen Winterspiele bekommt) der leidgeprüften Stadt fungiert.
Dritter Stock im Rathaus von Sarajevo: Außen sind die Einschüsse nur improvisiert verputzt, drinnen im Büro mit der Nummer 303 sitzt der Fußballphilosoph vormittags bei türkischem Kaffee und Sliwowitz. Die Olympiachancen? »Es wird schwer. Aber schon die Kandidatur allein ist wichtig, weil wir so zeigen, dass wir wieder da sind.« Mehr als 12.000 Zivilisten, unter ihnen 1.600 Kinder, waren während der Belagerung getötet worden. »Wo war die Welt, als Sarajevo eingekesselt wurde? Wo war Europa? Warum wurde nicht reagiert?«, fragt Osim. In Sarajevo wolle niemand neue Konflikte, man habe gelernt: »Kriege zu führen bringt nichts.« Abflug aus Sarajevo. Nach wenigen Flugminuten fällt der Blick auf riesige Gräberfelder, die zwischen Hügeln eingebettet sind. Tausende Grabsteine in einem leuchtenden Weiß dokumentieren den kriegerischen Irrsinn. Da der herkömmliche Friedhof zu klein geworden war und auch während der Begräbnisse immer wieder Menschen ermordet wurden, wich man in die geschütztere Hügellandschaft aus. Ivica Osim berichtet: »Ein Freund von mir, der getötet wurde, konnte sieben Tage nicht begraben werden, es war zu gefährlich. Daher entschloss sich seine Familie, ihn gleich neben dem Haus zu bestatten.« Der Trainer runzelt die Stirn: »Was kann man da noch sagen?« Und schweigt.
Interview mit Ivica Osim im Sturm-Trainingszentrum Messendorf im Herbst 2018. Der auf einen Stock gestützte »Jahrhunderttrainer« ist in Begleitung seiner Frau Asima, er bestellt sich Weißwein und nippt immer dann am Glas, wenn Asima abgelenkt ist. Der Körper scheint schwach geworden zu sein, der Geist ist wach, hellwach. Osim berichtet über seine Zeit in Graz, die Anfangstage in der »Gruabn«: »Solche Fußballplätze war ich aus meiner Heimat Bosnien gewohnt. Das Hauptproblem der ›Gruabn‹ war, dass wir hier nicht so schnell spielen konnten, weil der Rasen nicht eben war.« Aber: »Die ›Gruabn‹ war ein Fetischstadion.« Das Publikum sei laut gewesen, habe über viel Energie verfügt, und das habe zu einem Vorteil werden können. Osim spricht von seiner »sehr gut eingespielten Mannschaft«, der Übersiedelung nach Liebenau, den Erfolgen in der Champions League, und zwischen den Zeilen klingt mehrfach Wehmut durch. Dass nicht noch mehr Erfolge erreicht werden konnten. Dass in den David-gegen-Goliath-Partien nicht das gesamte Potenzial ausgeschöpft werden konnte. Dass ihm nicht mehr Zeit als Trainer in der steirischen Fußballprovinz vergönnt war. Dort, wo er Angebote von Real Madrid bekam und diese ablehnte, weil er eben in Graz bleiben wollte – übrigens keine erfundene Anekdote. Ivica Osim, der Perfektionist, der gerne Vokabeln wie »komparieren« oder »handicapieren« in den Mund nimmt, gerät immer noch in einen Redeschwall, wenn er von Sturm Graz erzählt. »Es war eine schöne Zeit, in einer kleinen Stadt große Erfolge feiern zu können«, sagt er. Und: »Fußball hat Graz etwas gebracht. Viele in Europa haben vor unseren Erfolgen gar nicht gewusst, wo Graz eigentlich liegt. Wir haben uns einen Namen gemacht.«
Finaler Erinnerungsschauer
4. Mai 2022, Merkur-Arena. Der schwarze Sarg ist mit weißen Blumen geschmückt, er ruht auf einem in den Rasen gerückten Podest, in Sichtweite zum Transparent, das die Fangruppen von Sturm Graz aufgehängt haben: »Sturm deckt alles, was schwarz ist in meinem Leben, alles, was weiß ist, auch.« Ein Zitat von Osim, das seine enge Verbundenheit zum Grazer Klub dokumentiert, zudem sein sphinxisches Wesen verbildlicht. Denn: Das Leben, und das weiß Ivica Osim nur allzu gut, ist eben nicht nur schwarz und weiß, es kennt viele Zwischentöne. Abschied von einem Menschen im Fußballstadion: Das Setting ist ungewöhnlich, dort, wo üblicherweise gejohlt und geklatscht wird, sitzen Tausende ruhig, hören bosnische Musik und Trauerreden mit viel Herzblut. Manche trinken Bier. Man ist unsicher, wie man sich verhalten soll: Kann man auch applaudieren? Man erinnert sich an kollektive Erfolge und individuelle Lebensphasen. Die eigene Vita zieht in Gedankensplittern vorbei, die vergangenen 28 Jahre haben vieles verändert, auch Freundeskreise und Partnerschaften. Ivica Osim war über Jahrzehnte ein mentaler Begleiter, ein Vorbild, ein Vertreter des Weltfußballs, den es über Umwege und Schicksalsschläge nach Graz verschlagen hatte, eine Figur wie aus einer griechischen Tragödie, ein Monolith, der alles zu überdauern schien. Einer, der Menschen prägte.
Sky-Experte Alfred Tatar erinnerte sich kurz nach Osims Todesmeldung exakt am 113. Geburtstag von Sturm Graz wie folgt: »Er war damals Trainer von Sturm Graz, ich war Trainer von Ried. Ich habe zu ihm aufgeschaut, als wäre er ein Weltwunder. Ein unfassbarer Verlust.« So ging es vielen. Sein Charisma hatte die Fans schon vor Jahren in Eigenregie Osim-Schals produzieren lassen, Trikots mit seinem Autogramm wurden nie mehr gewaschen, später besorgte man sich – obwohl dieser Sprachen nicht mächtig – via Internet Osim-Biografien aus Bosnien oder aus Japan, kaufte im Altwarenladen zu Sarajevo kleine Schwarz-Weiß-Fotos, die den Hünen als Spieler zeigten. Den »Strauss von Grbavica«, der in seiner gesamten Karriere keine gelbe Karte zu sehen bekam – auch das ist keine erfundene Anekdote. Seine Süffisanz, seine bisweilen rätselhaften Interviews, sein untrügliches Taktikwissen, seine Getriebenheit, Fußballspiele live oder via TV zu konsumieren, sein weicher Kern, der in einer harten Schale steckte, seine Sentenzen (zum Beispiel: »Fußball ist sehr leicht, und alles, was leicht ist, ist auch schwer.«) werden in Erinnerung bleiben. Und er vermochte auch Intellektuelle zu faszinieren. »Osim, obendrein bekanntlich ein Philosoph, ein introvertierter Denker, ein Skeptiker und Schweiger, ist auch der wandelnde Widerspruchsgeist«, schrieb der Autor Gerhard Roth (1942–2022) in seiner Laudatio »Ivan Osim – Der schweigsame Merlin der Fußballwelt«, rezitiert auf der 100-Jahr-Feier des Klubs im Jahr 2009.
Man blickt auf den Sarg und denkt an den eigenen Kniefall auf Stadionbeton, als Sturm Graz nach einem 5:0-Sieg über Austria Wien am Ostermontag 1998 erstmals als österreichischer Meister feststand. An nächtliche Fahrten zum Flughafen Graz-Thalerhof, um Osim und Co nach erreichter Qualifikation für die Champions League gebührend zu empfangen. An Kunstausstellungen und Theaterstücke und Installationen, in denen er Thema war. An das von ihm vermittelte Gefühl, alles erreichen zu können: »Nur mutige Mannschaften schreiben Geschichte. Es gibt immer die Möglichkeit, etwas mehr Selbstbewusstsein zu haben als der Gegner und etwas zu probieren.« Ein Melancholiker als Mutmacher. Nach 81 Minuten – das beinahe erreichte Lebensalter Osims – erlöscht das Flutlicht, bengalisches Feuer begleitet den Sarg auf dem Weg zum Bestattungswagen. Vorbei an der Kurve, die Sprechchöre für den Verstorbenen skandiert. Das endgültige Ende der Ära von Ivica Osim in Graz. Dunkelheit. Nur die Bremslichter des Bestattungsautos leuchten rot auf. Schwarz wäre stimmiger gewesen.
Die Fotografien hat Arno Friebes im Rahmen einer Reportage für das SturmEcho im Jahr 2011 in Sarajevo aufgenommen.
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