Was Liberalen die Freiheit ist, ist für linke Politik die Solidarität: höchster Wert, strömungsübergreifender Traditionsbestand, Leitmotiv des Handelns. Wer einen Linken unter der Gürtellinie treffen will, nennt ihn unsolidarisch. Was unter Solidarität zu verstehen ist, bleibt dabei meist notorisch unterbestimmt. Das ermöglicht den situationselastischen Einsatz der Vokabel in der politischen Rhetorik. Als der Vorsitzende der SPD, Hugo Haase, am 4. August 1914 vor dem Reichstag die Zustimmung seiner Partei zu den Kriegskrediten und damit zum Eintritt in den Weltkrieg erklärte, tat er dies »nicht nur im Interesse der von uns stets verfochtenen internationalen Solidarität, sondern auch im Interesse des deutschen Volkes«. Im Angesicht des russischen »Despotismus« wurde aus zwei Dingen eines, aus internationaler Solidarität das Interesse der Nation.
In Kriegszeiten knackt es an den Sollbruchstellen der Solidarität. Ist sie international zu denken und zu praktizieren – wem gilt sie dann? Den Klassenbrüdern und -schwestern? Bedrängten Völkern? Opfern? Kämpfenden? Was umfasst sie – und wer kann sie leisten? Einzelne? Parteien? Staaten? Eine Delegation linker Journalistinnen und Journalisten reiste im Mai aus Deutschland in die Ukraine, um mit Menschen zu sprechen, die in Gewerkschaften und linken Organisationen aktiv sind. Organisiert wurde die Reise vom Europäischen Solidaritätsnetzwerk, das eine Konferenz in Lwiw organisiert hatte. Hinfahren, zuhören, lernen, Informationen und Analysen vor Ort einsammeln, Perspektiven der vom Krieg Betroffenen einer internationalen Öffentlichkeit vorlegen. Das ist internationale Solidarität, sie kann in Berichten der Kolleginnen und Kollegen von Analyse + Kritik, Jungle World und der Schweizer Wochenzeitung nachvollzogen werden. Was darin auch deutlich wird: Für Aktivistinnen und Aktivisten in der Ukraine, gleich welcher politischen Strömung sie angehören, sozialistischen oder anarchistischen oder feministischen, ist die militärische Verteidigung des Landes gegen die russische Aggression der wichtigste Kampf. Sie sagen: Dafür wird Ausrüstung benötigt, die den russischen Angriffen standhalten kann. Wer kann sie liefern? Die Linke wohl kaum, benötigt wird schweres Kriegsgerät. Das liefern Staaten der EU und die USA, ganz unabhängig davon, was die ohnehin schwache Linke in Europa sagt. Joe Biden ließ sich vom Kongress militärische Unterstützung für die Ukraine in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar absegnen. Hier konvergieren die Interessen der westlichen Industriestaaten mit jenen der ukrainischen Linken im Abwehrkampf. Das kann man von links begrüßen oder schlicht als Notwendigkeit anerkennen – ist das dann Solidarität? Ist es dagegen unsolidarisch, Kritik an Waffenlieferungen zu üben oder die Ziele und Motive jener, die die Waffen liefern, kritisch zu überprüfen?
»Die Lage ist beschissen, die Optionen nur in Nuancen unterschiedlich schlecht, die Widersprüche fast unerträglich«, schrieb ich in der April-Ausgabe des TAGEBUCH. Der Befund bleibt gültig. Wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Delegationsreise ringen wir, so wie wohl die meisten unserer Leserinnen und Leser, um ein Verständnis von Solidarität in diesen neuen Zeiten. Und versuchen zugleich, die verschiedenen Dimensionen, international und vor Ort, der beschissenen Lage im Blick zu behalten. So in dieser Ausgabe mit einem Kommentar von Trautl Brandstaller zur neu entflammten Debatte um einen Beitritt Österreichs zur NATO (Seite 8), einer Reportage von Eugenia Seleznova und Lisa Kreutzer über die Ausbeutung ukrainischer Frauen in Österreich (Seite 32), aber auch im Interview mit der neuen Chefökonomin des ÖGB Helene Schuberth (Seite 20).
Dass die Widersprüche internationaler Solidarität – oder, in älterem Vokabular, des Arbeiter-Internationalismus – geschichtlich weit zurückreichen und nicht nur im Kriegsfall komplex sind, zeigt der Arbeitshistoriker Marcel van der Linden. Der hohe Wert der proletarischen Geschwisterlichkeit bricht sich an der Realität dessen, was Ulrich Brand und Markus Wissen die »imperiale Lebensweise« nennen. Arbeiterinnen und Arbeiter im globalen Norden ziehen Nutzen aus der Ausbeutung ihrer Klassengenossinnen im globalen Süden. Auf welche Weisen das geschieht und welche politischen Fragen diese Tatsache aufwirft, lesen Sie in der Titelgeschichte ab Seite 14. Solidarität bleibt Wert, Traditionsbestand und Leitmotiv. Die Arbeit daran, ihre Bedeutung auf den Stand unserer Zeit zu bringen, bleibt zu leisten.
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