Heute ist fast vergessen, wie groß die linken Hoffnungen nach dem Sieg des Sozialisten François Mitterrand bei den französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 1981 waren. Zwar war das 1972 gebildete linke Wahlbündnis Union de la gauche von Kommunisten und Sozialisten bereits Ende der 1970er Jahre auseinandergebrochen. Das Wahlprogramm der Sozialisten von 1981, 110 propositions pour la France, nahm jedoch viele der Forderungen der alten Wahlplattform auf, ja trieb sie sogar weiter: Neben sozialen Verbesserungen sah es Verstaatlichungen der Schlüsselindustrien und des Bankensektors vor. Tatsächlich wurde im Februar 1982 ein aus heutiger Sicht umfassendes Verstaatlichungsgesetz beschlossen. Wie der Literaturwissenschafter Jürgen Doll wenige Monate später für das Wiener Tagebuch berichtete, deutete sich jedoch schon bald ein Kurswechsel an. Spätestens 1983 war aus dem linken Aufbruch eine Enttäuschung geworden. Dennoch: Der Wahlerfolg Mitterrands von 1981 war auch ein Resultat systematischer Bündnispolitik linker Parteien. Bei den aktuellen französischen Parlamentswahlen knüpft die Linke nach Jahren der wahlpolitischen Zersplitterung wieder an diese Tradition der Allianzbildung an.
Jürgen Doll
Linke Austeritätspolitik in Frankreich
»›Das Ziel in der gegenwärtigen historischen Periode ist nicht der Sozialismus, der eine Entwicklung der Mentalitäten voraussetzt, von der wir weit entfernt sind. [...]‹
Diese paternalistische Aussage stammt nicht von einem Vertreter des rechten Parteiflügels der französischen Sozialisten, sondern von Jean-Pierre Chevènement, dem hervorragenden Exponenten des linken CERES, wobei noch überrascht, daß dieser sich als Marxist verstehende Theoretiker und heutige Staatsminister bei den ›unterentwickelten‹ Mentalitäten und nicht bei den ökonomischen Zwängen Zuflucht sucht, um eine gewisse Richtungsänderung in der Politik der Linksregierung zu erklären. Die Äußerung von Chevènement stammt vom 28. Mai 1982, ein Jahr nach dem sozialistischen Wahlsieg. Seither häuften sich die Appelle zur Mäßigung, zum Realismus und zur Opferbereitschaft. Premierminister Mauroy bezeichnete die Lohnerhöhungen des letzten Jahres als exzessiv, Finanzminister Jacques Delors [...] will besonders die Sozialleistungen abzubauen versuchen.
[...]
Seit der Gründung der Sozialistischen Partei 1971 auf den Trümmern der sozialdemokratischen SFIO bemüht sich die SP, sich klar von der Sozialdemokratie abzuheben und sie schrieb in ihrem Parteiprogramm von 1972 den ›Bruch mit dem Kapitalismus‹ fest. Auch in ihrer Grundsatzaussage zu den Präsidentschaftswahlen 1981 heißt es, ›es gehe nicht darum, das kapitalistische System zu verbessern, sondern durch ein anderes System zu ersetzen‹.
[...]
Doch scheint schon vom grundlegenden Axiom der Steigerung der Produktivkräfte und des notwendigen Wirtschaftswachstums her gesehen mehr eine Modernisierung des kapitalistischen Produktionsapparats auf der Tagesordnung zu stehen als das im Programm der Partei versprochene ›andere System‹. [...]
Im Grunde handelt es sich bei der neuen Industriepolitik wie der Konzertierungspolitik [Premier, Anm.] Mauroys wohl eher um Maßnahmen, die die ›moderne Republik‹ verwirklichen helfen sollen [...].«
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