Wahrheit und Dichtung

von Karsten Krampitz

Illustration: Aelfleda Clackson

Nachtrag zum Leben und Wirken Stephan Hermlins, 25 Jahre nach seinem Tod.


2844 wörter
~12 minuten

Was für eine Metaphorik! »Der in Scherben Gebadete«, so die poetisch sichtlich bemühte Überschrift eines Artikels, der unlängst in der Tageszeitung Neues Deutschland erschienenen ist. Anlass war der 25. Todestag Stephan Hermlins. Allen ahnungslosen Spät- und/oder in Österreich Geborenen sei gesagt, dieser Dichter war einmal eine Instanz im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Sein Platz in der Kulturgeschichte der DDR soll ihm hier auch nicht bestritten werden: Im November 1976 war es eben jener Stephan Hermlin, der elf namhafte Schriftsteller um sich scharrte, darunter Christa und Gerhard Wolf, Jurek Becker, Volker Braun und Sarah Kirsch, Stefan Heym und Heiner Müller, und sie dazu bewegte, mit einer von ihm vorformulierten Protestresolution gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aufzubegehren. Nie wieder waren Dichter im deutschen Sprachraum so gefährlich, nie wieder haben Literaten eine Regierung derart in Bedrängnis gebracht. Unvergessen auch Hermlins Auftritt vor dem DDR-Schriftstellerkongress anno 1979, als Stephan Heym und andere unliebsame Autoren ausgeschlossen wurden. Hermlin beschloss seinen Redebeitrag mit einem Grillparzer-Zitat: »Will unsere Zeit mich bestreiten, / ich lasse es ruhig geschehn / Ich komme aus anderen Zeiten / Und hoffe in andere zu gehen«. Unbestritten: Hermlin war ein kluger Mann, belesen und weltgewandt; sprach fließend Englisch und Französisch, und das in einem Staat, indem es vor allem auf die Russischkenntnisse ankam. 

Im selben Jahr sorgte Hermlin mit dem schmalen Band Abendlicht für Aufsehen und Gesprächsstoff. Wäre die Deutsche Demokratische Republik eine Gesellschaft mit freien Diskursen gewesen, hätte Hermlin mit Abendlicht einen solchen losgetreten, hatte er doch ein anderes Büchlein etwas gründlicher gelesen als die SED-Schriftgelehrten – das berühmte Manifest der Kommunistischen Partei, von Karl Marx und Friedrich Engels. Und tatsächlich, die beiden Begründer des dialektisch-historischen Materialismus hatten von der Zukunft geschrieben, dass an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine »Association« treten werde, »worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist«. Eine Aussage, die in etwa das Gegenteil von dem darstellte, was das Politbüro in der DDR propagieren ließ. Das Manifest war nicht irgendein Text. Im vorgeblich ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden wurde sein Wortlaut als Heilige Schrift gehandelt. Im Kommunistischen Manifest, wie es verkürzt genannt wurde, hatte sich der Geist der Geschichte respektive der gesetzmäßigen Entwicklung der Geschichte hin zum Kommunismus offenbart. Und jetzt das! Die Freiheit des Einzelnen sollte, nach Marx und Engels, die Bedingung sein für die Freiheit aller! Nicht umgekehrt. In der Kommunistischen Partei hatte Hermlin das Zeug zum Häretiker. Und wie schon der spanische Reformkommunist Santiago Carrillo sagte: »Die Zukunft hat immer den Ketzern gehört!« Hermlin aber musste sich für seine Thesen nie vor der Glaubenskongregation verantworten; die Wende kam und sein Mut geriet in Vergessenheit. Und weder FAZ noch Süddeutsche, weder Zeit noch Spiegel erinnerten zum 25. Todestag an Stephan Hermlin (und schon gar nicht Der Standard). 

Der einflussreiche Intellektuelle

Dabei hatte Hermlin auf das Schaffen vieler Dichter in der DDR Einfluss. Die »Lyrikwelle« zu Beginn der sechziger Jahre ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Der legendäre Lyrikabend am 11. Dezember 1962, in der Ostberliner Akademie der Künste, geht auf seine Initiative zurück. Als Sekretär der Sektion Dichtung und Sprachpflege hatte Stephan Hermlin damals dazu aufgerufen, neue Verse einzusenden. Die Resonanz auf seinen Aufruf war überwältigend. 144 Einsender schickten insgesamt 1.250 Gedichte; 100 davon suchte Hermlin für die Veranstaltung aus. Ein Abend, der mit seinen Gedichten Geschichte schrieb: Es lasen Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel, B. K. Tragelehn und nicht zu vergessen der junge Wolf Biermann, der mit seiner Gitarre dem Treffen seine ganz eigene Prägung gab. Beinahe drei Jahrzehnte später erinnerte sich Volker Braun: »Die bloße Lesung angehäuften unveröffentlichten Zeugs, darunter einige gute Gedichte, wurde zur Sensation, zur skandalösen Störung der Kulturpolitik.«

Stephan Hermlin verlor daraufhin – vor nunmehr fast 60 Jahren – seine Arbeitsstelle an der Akademie der Künste. Hermlin aber ist in der DDR nie gestürzt, wenn auch bisweilen etwas härter gelandet. Als Vizepräsident des Internationalen PEN-Klubs umgab ihn lange Zeit der Nimbus eines staatstragenden Dissidenten – eigentlich ein Oxymoron, aber nicht für Hermlin. Noch am 22. Oktober 1989, wenige Tage nach Honeckers Sturz, schrieb er einen Brief an den nun ehemaligen SED-Politbüro-Chef: »Lieber Erich, es drängt mich, dir in diesen dramatischen Tagen einige Worte zu senden …« 

Das Faksimile ist im Interviewband mit Margot Honecker abgedruckt, den Luis Corvalan 2001 im Verlag Das Neue Berlin herausbrachte. In dem Brief erfahren wir einiges über Hermlins Verhältnis zu Honecker: »Und nie werde ich vergessen, dass ich, wenn ich zu dir kam, um für die Freiheit von Schriftstellern und die Veröffentlichung von Büchern zu plädieren, bei dir nie auf Widerspruch, sondern stets auf Verständnis stieß. Für all das, lieber Erich sage ich dir Dank.«

Und vielleicht sollte man heute dafür auch Hermlin danken. Während der SED-Diktatur fungierte er als wichtiger Vermittler von Kunst und Literatur. Kurzum: Stephan Hermlin war in der DDR ein einflussreicher Intellektueller – nur, die Frage sei gestattet: War er auch ein bedeutender Schriftsteller?

Es gibt eine Heiner-Müller-Gesellschaft, die sich um das Werk des toten Dichters kümmert, eine Christa-Wolf-Gesellschaft, eine Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft. Aber es gibt keine Stephan-Hermlin-Gesellschaft. In der jüngeren Literaturwissenschaft gibt es kein Forschungsprojekt, das sich mit dem Werk Hermlins ästhetisch auseinandersetzt. Und das wundert. Gehörte dieser Mann doch zu den Säulenheiligen der DDR-Literatur, der auch im westdeutschen Feuilleton Anerkennung genoss – ungeachtet solcher Sätze wie: »Ein glorreicher Sommer wölbte sich über dem Haus«, »der Tag wölbte sich höher […] fern lehnte ein Hirt an seinem Stab neben den Lärchen.« Und nicht zu vergessen: »der Sommer wölbte sich von neuem grün und golden über den Gesprächen unserer Freunde« – Zitate, die aus dem erwähnten Abendlicht stammen, Hermlins einzigem längeren Text; 140 Seiten mit großen Buchstaben. Sätze, die schon bei Drucklegung schlichtweg Kitsch waren. Und offenbar hat ihm das niemand gesagt. Warum? 

Als Rudolf Leder 1915 in Chemnitz geboren, galt Stephan Hermlin im Literaturbetrieb beider deutscher Staaten als sakrosankt. In der Literatur der DDR, dem in Ostberlin 1976 verlegten elften Band der Geschichte der Deutschen Literatur lesen wir über ihn: »Als Sechszehnjähriger hatte sich Stephan Hermlin der Kommunistischen Jugendbewegung angeschlossen und war nach 1933 den Verfolgungen der Faschisten ausgesetzt gewesen. 1936 musste er emigrieren und gelangte über Ägypten, Palästina, England und Spanien nach Frankreich, das ihm seit 1937 Aufenthalt bot. 1941 flüchtete er auf gefährlichen Wegen in die für seinesgleichen keineswegs gastfreundliche Schweiz. Angst und Einsamkeit waren ihm nicht fremd geblieben, doch hatte er in diesen Jahren auch andere Erfahrung gesammelt. In der illegalen Arbeit gegen den deutschen Faschismus, bei der Unterstützung des spanischen Freiheitskrieges und in französischen Lagern hatte er die Kraft internationaler Solidarität kennengelernt, war er selbst zu einem bewussten Kämpfer geworden.«

Wir können davon ausgehen, dass dieser biografische Abschnitt nicht ohne Zustimmung Hermlins im Lexikon veröffentlicht wurde. Eine Darstellung, die nicht ohne Absicht einiges offenlässt. Zwischen den Zeilen las man damals, dass Hermlin im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat, gegen Franco – wie bescheiden von ihm, wird mancher gedacht haben, dass er dies nicht ausdrücklich benennt. 1946 hatte Hermlin in einem Fragebogen für den Hessischen Rundfunk angegeben, »1938 Offizier in den Intern. Brigaden der Spanischen republikanischen Armee« gewesen zu sein. Wie der Journalist Karl Corino Mitte der neunziger Jahre herausfand, hatte in der überschaubaren Community der in der DDR lebenden ehemaligen Interbrigadisten niemand diesen bekannten Dichter als Kampfgenossen erlebt (anders etwa als bei Ludwig Renn). In seiner Hermlin-Studie bezieht sich Corino auf den Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Spanienkämpfer Alfred Kantorowicz, der in seinem Tagebuch Ende der fünfziger Jahre von einer DDR-Massenauszeichnung für Interbrigadisten berichtet. Kantorowicz schreibt: »Ein bezeichnendes Kuriosum soll am Rande vermerkt werden. Zum Erstaunen aller Kameraden fand sich bei der vorzugsweisen Erwähnung besonders prominenter Spanienkämpfer in der Presse auch der Name eines Schriftstellers, der während der fraglichen Zeit nicht einen Tag in Spanien gewesen war und folglich auch nicht am Treffen der Spanienkämpfer teilgenommen hatte: Stephan Hermlin.« 

Aber wenigstens hatte Hermlin, wie das Lexikon kolportiert, »illegale Arbeit gegen den Faschismus« geleistet. Noch im Brief an Honecker vom Herbst ’89 behauptet er: »Ich bin stolz darauf, dass ich in Berlin, kurz vor deiner Verhaftung, zu den jungen Kadern gehörte, die du im illegalen Kampf leitetest. Damals kannte ich dich noch nicht.« Dass der erste Mann im DDR-Staat der siebziger und achtziger Jahre im Widerstand gegen die Nazis sein Chef gewesen sei, sollte Hermlin später noch in Interviews wiederholen. 

So viel steht fest: Der Jungkommunist und illegale Widerständler Erich Honecker wurde am 4. Dezember 1935 in Berlin von der Gestapo verhaftet. Der historische Stephan Hermlin, der in Abendlicht seinen Ich-Erzähler von der Illegalität berichten lässt, hat im richtigen Leben am Tag nach Honeckers Verhaftung auf dem Standesamt in Berlin-Charlottenburg die Büroangestellte Julliett Brandler geheiratet. In seiner Recherche zu Hermlin kommentiert Karl Corino dieses Ereignis süffisant: »Und es stellt sich natürlich die Frage, wie heftig eine Illegalität gewesen sein kann, wenn man im Herbst 1935, fast drei Jahre nach Hitlers Machtantritt, das Aufgebot bestellen, im Dezember 1935 die Ehe schließen und ca. Ende Januar 1936 ganz legal, mit Hausrat, ausreisen konnte.« Den Hinweis zum geretteten Hausrat erfuhr Corino von Hermlins Schwester Ruth, die er in Israel besuchte. 

Hermlins unwahrhaftige Prosa

Der Name Stephan Hermlin stand einmal für das Gute, für das Wahre einer Idee. Wer an die DDR glaubte, der glaubte Hermlin. Und selbstverständlich ist Geschichte, wie sie sich tatsächlich abgespielt hat, immer widersprüchlicher und komplizierter als unsere Fähigkeit, davon in Gänze zu berichten. Umso wichtiger sind Erzählungen. Literatur kann, aber muss nicht wahr sein. Einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit sollte sie aber erheben. Eben hierin liegt das Problem an Hermlins Prosa: Sie ist nicht wahrhaftig.

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, die Staatspartei der DDR, genauer gesagt ihr Apparat und das Politbüro, haben ihre Herrschaftslegitimation nie aus freien Wahlen hergeleitet, sondern von einer höheren Macht: dem gesetzmäßigen Gang der Geschichte. Weil Kommunisten unter den Nazis einen solchen Blutzoll gezahlt hatten, regierten sie jetzt, »im Bündnis mit anderen fortschrittlichen Kräften«, wie es hieß. Eben diesen SED-Herrschaftsanspruch, der sich auf die Geschichte als höhere Macht berief, hat Hermlin mit seinen Geschichten untermauert – Geschichten, die als autobiografisch gelesen wurden. Und weil in der SED-Staatserzählung zum Beispiel die Ermordung der Juden allenfalls am Rande vorkam, erzählt der Ich-Erzähler in Abendlicht von seiner jüdischen Herkunft auch nur beiläufig. Hermlin hat, was als Schriftsteller sein Recht war, seine Mutter, Lola Leder, eine stolze Zionistin aus Galizien, die in England geboren war, zur Christin erklärt. Und wie wir lesen, gab sich ihr wohlbehüteter Filius dem Ennui hin, der süßen schläfernden Langeweile, »während ich in meinem weißen Matrosenanzug meinen Stuhl auf dem Kies wippen ließ«. Der Ich-Erzähler erinnert sich seiner Kindheit im großbürgerlich-jüdischen Milieu, mit Kindermädchen, Erzieherin, Reitpferden, Kutscher und einem Flügel, an dem der Vater mit dem Onkel die f-Moll-Fantasie von Schubert spielte. 

Für die Stellung, die Stephan Hermlin im Literaturbetrieb beanspruchte und viele Jahre innehatte, immerhin war er Mitglied beider Akademien der Künste, in Ost- und Westberlin, für einen solchen Autor erscheint der Text, immerhin sein Hauptwerk, handwerklich ausgesprochen einfallslos. Wie auch in anderen Erzählungen, etwa Corneliusbrücke, nimmt Hermlin einfach nur historische Ereignisse und verknüpft sie mit seiner Biografie. Und sobald dazu dem Ich-Erzähler nichts mehr einfällt, was ständig passiert, ist die Erinnerung schlichtweg unterbrochen, der Erzählfaden zu Ende. So ist das eben mit dem Gedächtnis. Der nächste Absatz führt die Leser an einen anderen Ort, in einer anderen Zeit. Die Story in Abendlicht hat keinen Handlungsbogen, keine zweite Ebene. Und schon gar kein gewachsenes Beziehungsgeflecht der Protagonisten. So ist denn Abendlicht auch kein Roman und keine Erzählung, dafür fehlt schon allein der Plot. Der Leipziger Reclam-Verlag, der diese Bilanz seiner Jugend im Jahr 1979 verlegte, unterließ bewusst jegliche Zuordnung. Wahrheit und Dichtung, ist auf dem Klappentext zu lesen, fügten sich zusammen »zu einem Text von großer Intensität«. 

Bei einem Roman ist es letzten Endes unerheblich, aus wessen Feder er stammt. Die Blechtrommel von Günter Grass hätte auch Max Mustermann schreiben können, der nie in Danzig war und keine Kaschuben in der Verwandtschaft hatte – und dennoch wäre dieses Werk ein Jahrhundertroman. Abendlicht aber ergibt als fiktionaler Text keinen Sinn; eine solch erzählte Biografie darf nur veröffentlichen, wer tatsächlich eine entsprechende Biografie mitbringt. Oder anders gesagt: Als Schriftsteller habe ich im Spiel von Fiktion und Wirklichkeit jede Freiheit. Dennoch darf ich meinem mir zum Verwechseln ähnlichen Ich-Erzähler keinen Vater oder Großvater andichten, der im KZ umgekommen ist. Für eine solche Geschmacklosigkeit würde ich zu Recht Prügel beziehen. In Abendlicht schreibt Hermlin: »Von dem, was meinem Vater später widerfuhr, weiß ich nur wenig, von wenigen Zeugen. Einer meiner Freunde, ein junger Metallarbeiter, hatte ihn in Sachsenhausen gesehen, wie er gegen Ende des Jahres in dünnem Drillich Steine klopfte. Er habe gewusst, sagte mein Freund, dass mein Vater niemals zuvor körperlich gearbeitet hatte; er habe ihn auch ohne Klage schwere Lasten tragen sehen, nach seiner Einlieferung, die besonders furchtbar gewesen sei. Er habe der SS gegenüber bis zuletzt eine merkwürdige Haltung gewahrt, die Disziplin, Höflichkeit und Verachtung ausdrückte.« Hermlins Vater, David Leder, wurde von den Nazis nach der »Reichspogromnacht« ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, kam aber nach relativ kurzer Zeit frei und emigrierte nach England, wo er 1947 an Leberkrebs starb.

Dichter und ihre Lügen

Alles nur literarische Fiktion, wo liegt das Problem? Noch im September 1984 ließ sich Hermlin vor einem Millionenpublikum von Günter Gaus ins Gesicht sagen: »Ihr Vater, Herr Hermlin, war ein sehr wohlhabender, kunstsinniger, gebildeter, großbürgerlicher Unternehmer. Die Nationalsozialisten haben ihn als Juden im Konzentrationslager ermordet.« Corino sagt dazu: »Jeder moralisch integre Mensch hätte die Gelegenheit genutzt, diese Geschichtsklitterung wenigstens im entscheidenden Punkt ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, etwa nach dem Motto: ›Herr Gaus, ich muss hier endlich etwas richtigstellen. Mein Vater ist zwar vom 9. November bis 20. Dezember 1938, nach der Kristallnacht, im KZ Sachsenhausen eingesperrt und drangsaliert worden, aber dann hat man ihn mit der Auflage nach Hause geschickt, das Dritte Reich möglichst schnell zu verlassen. Er hat mich nach seiner Ausreise im Juli 1939 in Paris besucht, bis er mit meiner Mutter nach England einreisen konnte. Er hat dort schwer gearbeitet, mich bis zum Kriegsende materiell unterstützt und ist am 1. März 1947 an einer schrecklichen Krankheit gestorben, an Krebs.‹«

Platon sagt, dass alle Dichter lügen. Aber wie weit dürfen sie in ihrer Lüge gehen? Das Erfinden von Geschichten gehört doch zum Geschäft eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin. Niemand hat Anna Seghers einen Vorwurf gemacht, dass ihr Roman Das siebte Kreuz frei erfunden ist. Niemand hat Anna Seghers dafür kritisiert, dass sie – anders als ihr Ich-Erzähler – nie in einem Konzentrationslager war. Anna Seghers hat aber auch nie gesagt, suggeriert, insinuiert oder verbreiten lassen, ihr Roman trüge autobiografische Züge. Stephan Hermlin hat, im Unterschied zu Anna Seghers, mit seinen Lesern eine Art autobiografischen Pakt geschlossen, den er unzählige Male gebrochen hat.

Corinos Hermlin-Studie, als Dossier erstveröffentlicht in der Hamburger Zeit, löste 1996 im Feuilleton ein kleines Erdbeben aus. Nichts stimmte mehr: Hermlin hatte nicht bei den Interbrigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, nicht in der Résistance, und er selbst war auch in keinem Konzentrationslager eingesperrt gewesen. In einem Fragebogen der Alliierten hatte er 1946 angegeben, sogar selbst im KZ Sachsenhausen inhaftiert gewesen zu sein, in der Zeit von Januar bis März 1934, als es das Lager noch gar nicht gab.

Mit diesem Skandal sollte Hermlin, der im Jahr darauf verbittert starb, in Erinnerung bleiben. Das wahre Leben des Stephan Hermlin hätte sehr viel Stoff geboten, etwa die Geschichte seiner Mutter, einer stolzen Jüdin. Die Geschichte von seiner existenziellen Gefährdung, seiner Emigration und Flucht reichte ihm nicht aus. Eine Heldengeschichte musste her, die Hagiografie eines kommunistischen Intellektuellen, der seiner Partei die Treue hält, egal was kommt. Dergleichen aber war und ist keine Literatur; der Schriftsteller Stephan Hermlin hat versagt. Und das Scherbenbad, von dem das Neue Deutschland fabuliert, hat Hermlin sich selbst eingelassen. Als im Jahr 1996 im Feuilleton die Debatte um seine Lügen tobte, schrieb Iris Radisch in der Zeit: »Es gibt keine Menschenpflicht zur Wahrheit. Aber es gibt ein Menschenrecht, den Süßholzrasplern zu misstrauen.« 

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