Es geschieht uns allen
von Norma Schneider
EUR 22,70 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 30,90 (CH)
Helenes Tage sind voller Lärm. Drei Kinder und ein Mann, der sich um nichts kümmert, alle zu Hause im Lockdown, alle sind immer da und wollen etwas von ihr, schreien und streiten. Sie sitzen beim Abendessen, als es schließlich nicht mehr geht und Helene einfach aufsteht, auf den Balkon geht und sich in den Tod stürzt.
So beginnt Die Wut, die bleibt, der neue Roman von Mareike Fallwickl. Sie erzählt darin von zwei Frauen, für die Helenes Selbstmord ein Neuanfang bedeutet, weil sich ihre Trauer, Wut und Hilflosigkeit mit der Zeit in Kraft und Solidarität wandeln. Sarah war Helenes beste Freundin, sie macht sich Vorwürfe, nicht gemerkt zu haben, wie es Helene ging, ihr keine Hilfe angeboten zu haben. Nach ihrem Tod kümmert Sarah sich um die Kinder, um dem überforderten Witwer Johannes unter die Arme zu greifen. Mit der Zeit wird ihr klar, was Helene durchgemacht hat.
Helene hat nicht nur ihre eigenen Träume und Pläne für ihre Kinder aufgegeben und ist in ein Leben hineingerutscht, in dem kein Platz mehr für sie selbst war, weil es nur noch um Kümmern, Versorgen, Putzen und Kochen ging. Sie musste sich auch mit einem Ehemann arrangieren, der Dankbarkeit erwartete, wenn er für zehn Minuten auf die Kinder aufpasste, damit Mama mal kurz duschen gehen konnte.
Sarah wird klar, dass Helene nicht darüber gesprochen hat, wie überfordert sie war, weil es ein Tabu ist, auszusprechen, wie unfassbar anstrengend Sorgearbeit ist, vor allem wenn der Partner nicht mithilft, als Frau muss man das schließlich können: »Der erschöpfte Vater ist gesellschaftlich anerkannt, er bekommt Verständnis, die erschöpfte Mutter bekommt Sprüche.«
Wie Helene hat auch Sarah verinnerlicht, dass die Frau nichts fordert, sondern gefallen muss. Sie empfindet eine »tiefgehende, von außen hineingepresste Enttäuschung, nicht zu entsprechen, nicht zu genügen«, nicht dünn und attraktiv genug zu sein. Dass Helenes Teenager-Tochter Lola mit Sarah streitet und ihr Stichworte aus den feministischen Büchern, die sie gerade liest, an den Kopf wirft, hilft Sarah schließlich dabei, sich nicht länger selbst kleinzumachen, Johannes ihre Meinung zu sagen und sich nicht ausnutzen zu lassen.
Lola ist die zweite Hauptfigur des Romans. Fallwickl erzählt immer abwechselnd aus Sarahs und Lolas Sicht, bleibt dabei nah an den Figuren und findet so klare wie mitreißende Worte für deren Gedanken – und für die patriarchale Gesellschaft, die sie umgibt.
Nach Helenes Selbstmord sitzt die Trauer als Zorn in Lola fest. Sie richtet diese Wut gegen sich, verletzt sich selbst und hört auf zu essen – womit sie in der Schule genau die falsche Art von Aufmerksamkeit bekommt, denn »sie riefen: super Figur, Lola, und nicht: wie können wir dir helfen, Lola«. Als Lola und eine Freundin dann auch noch von einer Gruppe Jungs angegriffen und belästigt werden, reicht es ihr. Sie schließt sich einer Kampfsportgruppe von Frauen an, findet einen neuen Freundeskreis, lernt sich zu wehren.
Die Wut, die bleibt ist eine aufrüttelnde Lektüre, die teilweise schmerzhaft zu lesen ist. Sie legt die patriarchale Normalität gnadenlos offen: Männer, die Frauen ausnutzen und mit der Sorgearbeit allein lassen, Männer, die Frauen benutzen und ihnen Gewalt antun, und Frauen, die sich all das gefallen lassen. Der Roman zeigt, wie schwer es für viele Frauen ist, das zu überwinden, was einem selbst vorgelebt wurde.
Aber der Roman gibt eben auch Hoffnung, was möglich ist, wenn man nicht allein ist, wenn man zusammenhält, für sich selbst und für andere einsteht.
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