Wenn die chilenische Bevölkerung diesen September über den Entwurf einer neuen Verfassung abstimmt, steht nicht nur zu hoffen, dass das Land die Ära des Diktators Pinochet (1973–1990) endgültig hinter sich lassen wird. »Die Verfassung, wird sie angenommen«, schreibt Ulrich Brand, »löst Probleme nicht von heute auf morgen, aber sie kann dazu beitragen, strukturelle Ungleichheiten und Machtungleichgewichte zu überwinden.« Und: »Die globale Bedeutung des chilenischen Prozesses liegt darin, in dystopischen Zeiten mit heißen und kalten Kriegen ganz praktisch zu zeigen, dass Gesellschaft und Leben auf diesem Planeten anders, nämlich solidarisch und nicht zerstörerisch organisiert werden können.«

In Europa, insbesondere in Deutschland, wären dagegen erst einmal praktische Beispiele vonnöten, wie sich Linke überhaupt »solidarisch und nicht zerstörerisch« in einer Partei zusammenfinden können.

Keine zehn Wochen ist es her, da versammelte sich die deutsche Linkspartei in Erfurt zum Parteitag. Aufbruch und Zusammenhalt sollte der signalisieren und den Willen betonen, künftig das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Bislang deutet wenig darauf hin, dass die Partei das Versprechen einlösen will. Das zeigte sich zuletzt Mitte August, als Sören Pellmann, einer von nur drei direkt gewählten Linke-Abgeordneten im Deutschen Bundestag, der in Erfurt dem Reformer Martin Schirdewan im Kampf um den Parteivorsitz unterlegen war, Montagsdemonstrationen gegen die zunehmend unleistbaren Energiepreise anregte – und sich damit aus allen möglichen Ecken der Partei Vorwürfe einhandelte, mit der extremen Rechten gemeinsame Sache machen zu wollen. An Montagen, so Pellmanns Kritikerinnen, marschierten vor acht Jahren schließlich erst Querfrontler, dann die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, besser bekannt als Pegida. In deren Windschatten wiederum sollte die Alternative für Deutschland (AfD) in den Bundestag einziehen.

Einen Wochentag deshalb aufgeben, geht es eigentlich hanebüchener? Nicht zuletzt, weil die Montagsdemonstrationen historisch mit wichtigeren Bewegungen verbunden werden – vom Demokratiebegehren in der DDR zu Beginn der Wendezeit bis hin zu den Protesten gegen Hartz IV und die Agenda 2010 Mitte der Nullerjahre, ohne die es wohl weder die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) noch deren Fusion mit der PDS zur Partei Die Linke gegeben hätte.

Die eigentliche Tragödie ist ohnehin eine andere. Pellmans Initiative war die erste einigermaßen prominente aus den Reihen der Linken, die auf eine außerparlamentarische Reaktion gegen die massiven Teuerungen abzielte. Dass sie abgesehen von denunziatorischen Tweets kaum Widerhall gefunden hat, lässt für den Herbst nichts Gutes erwarten.

Für erhebliche Teile der europäischen Gesellschaften sind die Teuerungen der letzten Monate kaum mehr zu tragen. Zuletzt lag die Inflation in Deutschland schon bei über sieben, in Österreich bei knapp unter neun und in Großbritannien bei fast zehn Prozent. Und sie trifft ungleich: Diejenigen, die ohnehin zu kämpfen haben und die ihr regelmäßiges Einkommen lediglich noch für Güter des täglichen Bedarfs aufwenden, leiden überdurchschnittlich. Just jene Schichten also, die zu vertreten, sich die Linke einst angeschickt hat.

Man fragt sich, wo der Protest aufschlagen soll, wenn nicht sie es ist, die ihn organisiert. Soweit es Österreich betrifft, liegt die Antwort auf der Hand: Die Sozialdemokratie erweist sich erneut als unfähig, naheliegendste fortschrittliche Forderungen zu formulieren, etwa staatlich festgelegte Preiskontrollen und -deckel und eine Rücküberführung zentraler Versorgungssysteme in öffentliches Eigentum. Der Platz links von ihr bleibt verwaist. Zu befürchten ist, dass jede Regung sozialen Protests die FPÖ stärken wird.

Und in Deutschland? Da könnte Sahra Wagenknechts große Stunde schlagen. In ihrer Partei ist die ehemalige Fraktionschefin ohnehin abgemeldet, seit Erfurt trifft das fast ausnahmslos auch auf ihre Getreuen zu, Pellmann inklusive. Und im Unterschied zum Jahr 2016, als Wagenknechts Sammlungsversuch »Austehen« krachend scheiterte, sind die sozialen Bedingungen für eine solche Bewegung heute vorhanden.

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