Sicherheit auf Zeit

von Maksim Finogeev

Fotos: Maksim Finogeev

Im westukrainischen Lwiw haben LGBTIQ-Personen ein temporäres Zuhause fern der Frontlinien gefunden. Manche Transfrauen meiden es, sich als Binnenflüchtlinge zu registrieren – aus Angst, zum Militär eingezogen zu werden.


1661 wörter
~7 minuten

»Am wichtigsten war es, über den Dnjepr und damit ans richtige Ufer zu kommen«, sagte Dima über die Evakuierung aus dem von russischen Truppen belagerten Sumy. Ende Februar war er eigentlich gerade drauf und dran gewesen, in die USA aufzubrechen, um dort auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten. Beim dritten Anlauf hatte es endlich geklappt mit seinem Visum, dann kam der Krieg und vereitelte seine Pläne. Jetzt verbietet das Kriegsrecht allen Männern zwischen 18 und 60, das Land zu verlassen. Anderthalb Monate wohnte Dima mal hier, mal dort in der Ukraine; er war glücklich, als er nach der Befreiung von Sumy durch die ukrainische Armee wieder nach Hause konnte. Er wollte gern wieder fotografieren, sein Equipment hatte er bei der Evakuierung größtenteils zurücklassen müssen. Nach seiner Rückkehr hat er auf Instagram eine Serie von Selbstporträts gepostet, darunter eines, auf dem er über und über mit Glitter bedeckt ist, in den Farben der ukrainischen Flagge. All das erzählte er mir in Lwiw, wo er auf der Durchreise in einer LGBTIQ-Unterkunft Halt gemacht hatte.

Um mir ein Bild von der Lage dort zu machen, war ich aus Odessa nach Lwiw gekommen. Ich wollte dort arbeiten und ein wenig zur Ruhe kommen. Die größte Stadt der Westukraine ist jetzt ein Knotenpunkt für Binnenflüchtlinge, darunter viele aus der LGBTIQ-Community. Ein gutes Dutzend Organisationen für LGBTIQ-Rechte hat sich über Nacht in humanitäre Zentren verwandelt. Darunter eine NGO namens Insight, die eigentlich in Kiew ansässig und nun nach Lwiw übersiedelt ist. Zusammen mit dem Team des Women’s March organisiert Insight gezielte Hilfsleistungen und Unterkünfte für Menschen aus der LGBTIQ-Community und für Frauen mit Kindern. Als ich eine der Unterkünfte besuchte, lernte ich Dima kennen, und noch einige andere, die kurzzeitig dort wohnten. Mir war bewusst: Unter geringfügig anderen Umständen hätte ich ebenso gut an ihrer Stelle sein können. Dieses Wissen hat sich in unseren Begegnungen widergespiegelt.

Gemeinsame Essen gibt es auch: Stas hat Sandwiches für alle gemacht.

Seit Beginn der russischen Invasion hatte ich es nicht gewagt, meine Stadt zu verlassen – einmal fort, könnte ich vielleicht nie mehr zurück, so jedenfalls kam es mir vor. Ich verbrachte eine ganze Woche damit, meine Sachen zu packen, und entschied mich letztlich doch dagegen, wie so viele andere in die Westukraine zu fliehen. Je länger ich in meiner Geburtsstadt blieb, desto schwerer fiel es mir, ihr den Rücken zu kehren. Es ist erstaunlich, wie schnell die Bedrohung durch den Krieg einem nicht mehr unmittelbar gefährlich erscheint. Ich fühlte mich in dieser Zeit kein bisschen heldenhaft – vielmehr frustriert und gehemmt. Ich hatte Angst. Zuerst wurde Cherson besetzt, dann Mykolajiw angegriffen. Ich gestand mir ein, dass Odessa mit hoher Wahrscheinlichkeit als Nächstes dran sein könnte. Und ich war noch immer zu Hause. Unbemerkt war es zur Routine geworden, ständig mit dem Schlimmsten zu rechnen. Ich redete mir ein, ich könne mich ja jederzeit rasch in Sicherheit bringen – dadurch zögerte ich die unangenehme Entscheidung zu gehen nur hinaus. Letztlich gelang es den ukrainischen Truppen jedoch, die Verteidigung von Mykolajiw aufrechtzuerhalten und die russische Armee abzuwehren. Ich bin unermesslich erleichtert, in Odessa bleiben zu können.

Ein Hostel als Safe Space

Saschas Erfahrung ist das glatte Gegenteil von meiner: Als sich die Kriegshandlungen in der Region intensivierten, war schnell klar, dass sie ihren Wohnort Cherson verlassen muss. Schon als Teenagerin hatte sie die Besatzung von Luhansk miterlebt – das wollte sie kein zweites Mal durchmachen. Ihr Freund Stas kam aus Kiew, um sie abzuholen; gemeinsam haben sie Cherson verlassen. Einen Monat später kamen sie in Lwiw in der LGBTIQ-Unterkunft an.

Die Leute, die ich dort kennengelernt habe, waren zum Großteil noch jung. Sie kennen sich in Odessa noch nicht aus und haben weder Freundinnen noch Familie dort, die ihnen bei der Wohnungssuche behilflich sein könnten. Ganz abgesehen davon könnten sie in der Regel nicht genug Geld für eine Mietwohnung aufbringen. In der Unterkunft bekommen sie etwas zu essen, und ihre Grundbedürfnisse werden gedeckt. Früher war die Unterkunft ein Hostel. In den beiden Sälen können nun bis zu 16 Leute unterkommen, wobei die Organisation darauf bedacht ist, dass der Ort nicht zu überfüllt ist. Die meisten, die hier leben, verbringen viel Zeit auf beengtem Raum.

Grob könnte man die Leute hier in zwei Kategorien einteilen: Für die einen ist es ein Zwischenstopp, sie würden gern ausreisen und in Europa um Asyl ansuchen. Und die anderen kommen auf der Suche nach Sicherheit direkt aus Kriegsgebieten. Sie können sich von der Unterkunft aus in Ruhe ein dauerhaftes neues Zuhause suchen. Eigentlich ist man darauf bedacht, dass die begrenzten Plätze nach kurzer Zeit wieder für andere Hilfesuchende frei werden – möglichst nach etwa zwei Wochen. Aber das wird individuell gehandhabt: Wer nicht so schnell wieder ausziehen kann, darf bleiben. Sascha zum Beispiel ist nach und nach Teil des Organisationsteams geworden, sie sorgt im Hostel für Ordnung und macht alle möglichen Erledigungen. Dadurch ist es ihr möglich, länger in der Unterkunft zu bleiben – und den anderen dort zu helfen. Sascha, die mit ihrer Großmutter zusammen aus Sjewjerodonezk im Donbass geflohen ist, erzählte auch Augustina davon. Die beiden leben in verschiedenen Unterkünften. Zwar ist ihnen die Flucht aus umkämpften Kriegsgebieten gelungen, der Diskriminierung, die die LGBTIQ-Community in der Ukraine erfährt, entkommt man als betroffene Person jedoch nicht so leicht. Wer vor dem Krieg flieht, ist besonders auf einen sicheren Ort angewiesen: einen, wo man nach dem Dauerlärm der Geschütze endlich Ruhe findet, wo auch die eigene Identität respektiert wird. Sich plötzlich unter lauter Fremden zu befinden, kann für Menschen, die wegen ihrer Genderidentität oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden eine zusätzliche Belastung sein. Stress und Angst sind die Folge und häufig kommt es zu Konflikten.

Sascha und Augustina auf dem Weg zur Post.
In den Paketen sind Hilfsgüter.

Augustina hat im letzten Jahr ihre Transition begonnen. Zu der Zeit war sie an der Universität, aber mit ihrem Studium sehr unzufrieden, sodass sie erst mal pausierte. Mit Sascha verstand sie sich auf Anhieb. Nicht nur, dass sie im gleichen Alter sind und aus der gleichen Region kommen, sie stehen auch vor demselben Problem: Sie müssen ihre Pässe ändern lassen. In der Ukraine gibt es für Transpersonen ein geregeltes bürokratisches Prozedere, um den Personenstand in den Dokumenten auf das richtige Geschlecht anpassen zu lassen. Normalerweise ist das eine Sache von zwei bis drei Monaten, aber der Krieg hat auch das geändert. Augustina und Sascha könnten nun in die ukrainische Armee eingezogen werden, denn laut ihren Dokumenten sind sie Männer. Deswegen haben sie sich nicht getraut, sich bei ihrer Ankunft in Lwiw als Binnenflüchtlinge registrieren zu lassen, weil sie dann automatisch auch für den Militärdienst gemeldet würden. Verpflichtend ist die Registrierung nicht, auch wenn dazu geraten wird. Sascha und Augustina laufen jedoch permanent Gefahr, wegen ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert zu werden. Sie wollen ihre Belastbarkeit diesbezüglich lieber nicht auf die Probe stellen, obwohl sie dadurch um staatliche Hilfsleistungen gebracht werden, die ihnen als Binnenflüchtlingen eigentlich zustehen würden.

Weitermachen

Ich habe die beiden ins Einkaufszentrum begleitet, wo wir für Augustina eine neue Jacke gekauft haben. Sie hat sich für eine klassische schwarze Kunstlederjacke mit Reißverschluss entschieden. Überglücklich mit ihrer Wahl, ließ sie sich sofort von Sascha darin fotografieren, um ihren Freunden ein Bild zu schicken. Diese neue Jacke stand vielleicht auch für ein besseres Leben in Lwiw. Ich sah in dem Wunsch, attraktiv auszusehen, auch das Bedürfnis danach, weiterzuleben und weiterzumachen. Natürlich ist man emotional ausgezehrt, und niemand kann sagen, wie lang man nach all diesen Erfahrungen braucht, um wieder bei sich anzukommen – und in der neuen Umgebung, wo ein neues soziales Umfeld wartet. Dieser Prozess ist für alle anders, er kann schnell gehen oder Zeit brauchen. Wenn die äußeren Umstände von derart zahlreichen Variablen abhängen, kann man das Leben schlecht planen. Aber scheinbar unbedeutende Dinge können wenigstens im Kleinen etwas mehr Kontrolle zurückgeben – Mode spielt dabei mitunter eine Rolle.

Letztlich war ich zwei Wochen in Lwiw, habe an unterschiedlichen Orten gewohnt und mir mit Leuten, die ich kaum kannte, den Haushalt geteilt. Ich habe diese Erfahrungen wie unter Laborbedingungen machen können: Anders als Millionen anderer Ukrainer habe ich schließlich die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, wann immer ich will.

Für Dima ist Lwiw eine Zwischenstation – er will schnell wieder als Fotograf arbeiten.

Dass meine Rückkehr zum gefährlichsten Zeitpunkt stattfand, nämlich Anfang Mai, hat meinen Wunsch, nach Hause zu kommen, nicht kleiner werden lassen. In seiner 28 Minuten dauernden Ansprache über die Invasion hat Putin bloß eine einzige Stadt konkret benannt: Odessa. Dabei ging es um Vergeltung für die Tragödie vom 2. Mai 2014, als es in Odessa zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten zu Ausschreitungen gekommen war. Bei Straßenkämpfen und einem Brand in einem Gewerkschaftshaus starben 48 Menschen, die meisten von ihnen waren prorussisch; mehr als 200 weitere Menschen wurden verletzt.

Am Tag meiner Rückkehr wurde die Infrastruktur der Stadt bombardiert, russische Raketen töteten einen Menschen, es gab viele Verwundete. Doch das Leben kommt wieder zurück nach Odessa, trotz allem. Der Sommer trägt seinen Teil dazu bei. Einzig die Strände bleiben gesperrt, zu groß ist die Gefahr, dass vom Meer her ein erneuter Angriff kommt. Hin und wieder durchfährt mich diese Angst, meinen Wohnort verlassen zu müssen, den Ort, an dem ich geboren bin – schließlich steht unser Feind gerade einmal 125 Kilometer weit entfernt. Ich versuche, auf alles gefasst zu sein, aber wie soll man sich schon darauf vorbereiten, sein Zuhause zu verlieren?

Aus dem Englischen von Jana Volkmann.

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