Idiotie der Schubladisierung

von Sebastian Schmidt

527 wörter
~3 minuten
Idiotie der Schubladisierung
Anna Kim
Geschichte eines Kindes
Suhrkamp, 2022, 220 Seiten
EUR 23,70 (AT), EUR 23,00 (DE), CHF 34,90 (CH)

Wie pervers unsere Wahrnehmung und unser zwanghaftes Einteilen nach Herkunft und Hautfarbe sind, erfahren People of Color täglich. Welche Auswirkungen dies auf sie und ihr (familiäres) Umfeld hat, zeigte unter anderem der Fall Sandra Laing, einer Person of Color, die im südafrikanischen Apartheid-Regime aufgrund ihrer weißen Eltern zum Spielball der Bürokratie gemacht und damit furchtbar schikaniert wurde.

Auch Danny Truttman aus Anna Kims Roman Geschichte eines Kindes widerfährt behördliche Willkür: Als der Junge in den frühen 1950ern in einer Kleinstadt in Wisconsin geboren und zur Adoption freigegeben wird, versucht die Sozialarbeiterin Marlene Winckler auf eigene Faust und manisch, den Vater des Kindes ausfindig zu machen, um ihn eindeutig zu »klassifizieren«. Danny wird, so beschreibt es später ein Exkurs über die Bestimmung körperlicher Merkmale, »zergliedert«, damit er bei Eltern gleicher Hautfarbe aufwachse.

Seine Mutter, Carol Truttman, schweigt über den Kindesvater und weicht auf Unwahrheiten aus, wofür wir als Leserinnen von Beginn an Verständnis haben. Denn die Sache wird privat. Carol wird verunglimpft, ihre Nachbarinnen observieren und denunzieren sie bei der Behörde für Lappalien, die Carol laut kleinbürgerlichem Vorstadthandbuch unvermeidbar unterlaufen.

Bei aller Stärke des Romans entsteht der Eindruck, viele dieser Dinge schon einmal gelesen zu haben. Besonders zu Beginn des Romans, als Dannys Herkunft in Form von Akteneinträgen des Sozialdienstes dargestellt wird, leidet die Brisanz des Themas ein wenig an darstellerischer Herkömmlichkeit. Und Marlene
Wincklers Beobachtungen sind stellenweise subjektiv, was angesichts ihrer eigenen Herkunft, so lernen wir später, durchaus stimmig ist, aber es schadet dies der Universalität der behördlichen Akte und nimmt ihr ein gutes Stück Wirkmächtigkeit. Wir nehmen Mrs. Winckler schon bald nicht mehr ernst.

Erzählerin des Ganzen ist Franziska, die zum Schreiben ihres Romans in die Stadt Green Bay kommt. Dort lässt sie sich gemeinsam mit Joan, Dannys Ehefrau, auf Dannys Tour de Force ein: sein isoliertes Leben in der weißen Kleinstadt. Auch Franziska hat eine Mutter koreanischer Herkunft, Ha ihr Name. Wir erfahren, dass Ha Franziska verlassen, oder vielmehr, dass sie das einsame Dasein im trüben Österreich, dieser anderen Kultur, nicht mehr ausgehalten hat und zurück in die Heimat geflohen ist. Und so verweisen die beiden Lebensläufe, Dannys und Franziskas, immer wieder aufeinander und erzählen zwar zwei unterschiedliche Geschichten, aber eben auch die gleiche.

Ebenso wie Ha scheitert Danny in seiner Einsamkeit (so lässt er seine Gelegenheiten zu wichtigen Terminen zum Vortanzen allesamt verstreichen), doch anders als Ha verbleibt er an dem Ort, an dem er sich allein fühlt. Über die Gründe mutmaßt seine Frau Joan: »Er war nicht wie alle anderen, ihm war Gleichheit verwehrt, Überdurchschnittlichkeit aber, das Zeug zum Star, war auch nicht in seiner Reichweite, weil er trotz allem zu sehr wie alle anderen war.«

Anna Kim gelingt es, anhand dieser Geschichte mit wahrer Begebenheit die Idiotie der Versuche menschlicher Klassifikation aufzuzeigen – und deren Folgen. Gegen Ende resümiert die Erzählerin im Zuge akribischer Exkurse über Messverfahren mit Senfkörnern, Totenschädeln und »Parallelometern« ganz im Geist der Egalität: »Die menschlichen Formen verweigern sich dem Lineal.«

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