Weihnachten mit Schlagerstar Frank Zander im Jahr 2021. (Foto: Marc Vorwerk)

Nur nach Hause geh’n wir nicht

von Karsten Krampitz

Weihnachten mit irgendwelchen Suffkes interessiert keine Massen. Das musste auch Frank Zander lernen, der die Unbedachten Berlins seit fast drei Jahrzehnten gut zu bewirten weiß.


2059 wörter
~9 minuten

Mein schönstes Weihnachtserlebnis liegt schon bald 25 Jahre zurück, als in einem Saal mehr als anderthalbtausend Obdachlose hackevoll gesungen haben, dass sie nicht nach Hause gehen. Im Neuköllner Hotel Estrel war das. Frank Zander stand auf der Bühne, um wie jedes Jahr bei seiner Weihnachtsfeier für Unbehauste vier, fünf Lieder zu singen. Bloß dass er diesmal nicht nur die alten Hits sang, von wegen Ich trink auf dein Wohl, Marie (ich liebe diesen Song!) oder Marlene. Als Zugabe hatte er seine damals neue offizielle Hertha-BSC-Hymne im Programm: Nur nach Hause geh’n wir nicht.

Wir haben später darüber geredet. Als damaliger Schlussredakteur des Strassenfegers habe ich es mit ihm auf mindestens drei Interviews gebracht. »Hast du das gesehen?«, habe ich ihn gefragt. – »Ja, klar. War nicht zu übersehen …« Ich hätte heulen können, so schön war das. Andere haben geheult. Anderthalbtausend Unbedachte lagen einander betrunken und glückselig in den Armen und sangen nach der Melodie von Rod Stewarts Sailing: »Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause geh’n wir nicht!«

Bei manchen Bühnenkünstlern gibt es dieses eine Moment, das man rational nicht erklären kann und das sie als Künstler aus der Masse der Kulturschaffenden heraushebt. Dieses besagte Moment hat mit Können erst einmal nichts zu tun. Ohnehin wissen wir seit Arnold Schönberg, dass Kunst nicht von Können kommt, sondern von Müssen. In dieser Rechnung aber versteckt sich noch eine andere, unbekannte Größe. Johnny Cash war kein guter Gitarrist. Und doch ist da etwas passiert, wenn der »Man in Black« sich eine Gitarre umhing und vors Mikro trat. Und dieses Etwas kannst du nicht erklären, schon gar nicht in der Sprache der Worte. Auf einmal ist es da, offenbart sich.

Anderes Beispiel: In der Kantine des Berliner Maxim-Gorki-Theaters hatte ich 1996 ein Interview mit Harald Juhnke. Wir sprachen über Alkohol, Vorstrafen und darüber, was das letzte Buch war, das er gelesen hatte – das glaubt einem keiner: Hitlers willige Vollstrecker von Daniel Goldhagen, aber darum geht es nicht. Seinerzeit überraschte mich Juhnke mit völlig normalen, ja beinahe harmlosen Antworten. Ach Harald, dachte ich. Biste auch nur ein Mensch. Ja, klar hatte er wohl mal im Knast gesessen. Wer nicht? Eine Nacht wegen Trunkenheit am Steuer. Er hatte auch mal Schwarzhandel betrieben, nach dem Krieg eine Flasche Schnaps gegen einen Mantel eingetauscht. Und die weiteste Reise, die er in seinem Leben zurückgelegt hat, war vom Wedding in den Grunewald. Viel mehr Antworten waren da nicht. Egal. Für Alkoholiker waren wir das Fachblatt; den Strassenfeger mit Harald Juhnke auf der Titelseite mussten wir nachdrucken! Doch wirklich beeindruckt hat der Mann mich auf der Bühne. Im Gorki-Theater spielte er unter der Regie von Katharina Thalbach den Hauptmann von Köpenick von Carl Zuckmayer. Sein Kollege Jaecki Schwarz, im Osten eine Schauspiellegende, auch ein trockener Alkoholiker, der in dem Stück den Köpenicker Bürgermeister spielte, hatte den Interviewtermin für mich eingefädelt und noch dazu dem Fotografen und mir Freikarten geschenkt. Und so wurden wir an dem Abend Zeugen einer Verwandlung: Auf der Bühne spielte nicht der Mensch, mit dem ich eben noch gesprochen hatte. Was war da passiert? Vor allem erinnere ich mich an jene Szene, in der sich Juhnke als Schuster Wilhelm Voigt, nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war, um die todkranke Untermieterin seiner Schwester kümmerte. Dem sterbenden Mädchen las Juhnke am Bett aus den Bremer Stadtmusikanten vor: »Komm mit, sagte der Hahn – etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden.« Auf einmal war alles still. Da hat man richtig gemerkt, wie die Leute im Publikum gerührt waren und tief durchatmeten. Mit nur wenigen Mitteln hatte es Juhnke auf der Bühne geschafft, den Menschen die Seele zu streicheln.

Und das meine ich: diesen einen Augenblick, in dem große Kunst entsteht, den sich keiner erklären kann, nicht einmal der Künstler. Eine solche Transformation von Kultur zur Kunst erlebte ich auch an jenem Abend im großen Saal des Estrel-Hotels. Allerdings, und das war das Irre, nicht auf der Bühne, sondern davor! Dazu muss man wissen, Zanders alljährliche Weihnachtsfeier für Obdachlose ist bis heute die einzige in Berlin, wo die armen Schlucker zum Fest nicht nur Braten und Geschenke bekommen, sondern auch ein Bierchen. Oder zwei oder drei, da fragt keiner. Allein die Getränkerechnung der Weihnachtsfeier war fünfstellig.

Das Vorprogramm haben damals die Gebrüder Blattschuss übernommen (Kreuzberger Nächte sind lang). Den Sänger Beppo Pohlmann hatte ich auch im Interview. Beide sind wir komplett vom Thema abgekommen, haben über die Kampagne »Künstler für den Frieden« gesprochen. Ende ’82 bei einem Treffen in der Westberliner Akademie der Künste hatten sich zwei Sängerinnen recht angetan unterhalten über die Fernsehübertragung der Breschnew-Beerdigung am Moskauer Kreml. Pohlmann wollte aber nicht mit den Namen der beiden rausrücken. Aber das ist eine andere Geschichte. Auch dass Beppo Pohlmann eine coole Socke ist, der seinen alten Bandkumpel Jürgen von der Lippe angehauen hatte, für Zanders Weihnachtsfeier Geld zu spenden. Was dieser auch tat, und zwar ohne ein Wort zu verlieren! Doch zurück zur Weihnachtsfeier.

Nachdem nun die Stimmung im Saal proportional zum Alkoholpegel angestiegen war und alle, wirklich alle satt und viele eben besoffen waren, kam the Master himself on stage! Vorher aber kündigte ihn seine Band mit dem AC/DC-Gitarrenintro aus Thunderstruck an, wobei der Chorus in neuer Interpretation dauernd »Zan-der!« rief. Immer wieder: »Zan-der!« Die Leute im Saal hatten schnell kapiert und stimmten mit ein: »Zan-der!« Endlich betrat der Gerufene die Bühne, bekleidet mit einem langen schwarzen Ledermantel, einem Hut mit breiter Krempe und ganz Bohemien den weißen Schal um den Hals geschwungen. Nicht zu vergessen die Pornosonnenbrille. Die Menge tobte. »Hier kommt Kurt / ohne Helm und ohne Gurt.« Und ganz ehrlich, ich bin meinen Lebtag auf keiner besseren Party gewesen. Da hat einfach alles gestimmt: Essen, Trinken, Freunde. Interessanterweise bekommt Frank Zander nie Blumen auf die Bühne gebracht, sondern Schnapsflaschen. Die Obdachlosen himmeln ihn an!

Dass irgendwelche Stars und Sternchen in der Weihnachtszeit Charity-Events für Bedürftige spendieren, gibt’s überall – in Amerika, in München und sicher auch in Wien. In Berlin aber ist alles anders. Angefangen hat es damit, dass Ende 1994 irgendwelche PR-Fuzzis aus Zanders Plattenfirma die Idee hatten, für ein paar Berliner Obdachlose ein kleines Fest zu organisieren. Bei der Bild-Zeitung heißt es immer: »Mit Kindern und mit Tieren kannst du nicht verlieren!« Aber Weihnachten mit irgendwelchen Suffkes interessiert jetzt nicht so das Massenpublikum. Das musste auch Frank Zander lernen, der die Unbedachten beschenkte und gut zu bewirten wusste, ja sogar noch ein Liedchen vom neuen Album darbot. Er sollte nicht eine CD mehr verkaufen. Und noch schlimmer: Seither ist er aus der Weihnachtsnummer nicht mehr rausgekommen.

In jenem Jahr stand er bei der Saalöffnung am Eingang und empfing jeden Obdachlosen einzeln per Handschlag und manchen auch mit Umarmung. Damals waren das anderthalbtausend Handshakes in einer Stunde! Dabei hatte es einen zweiten Eingang gegeben, durch den jeder und jede hätte sofort durchgehen können. Seine Gäste aber haben diszipliniert in einer Reihe gestanden, um von »Frankie« persönlich begrüßt zu werden. Gibt es irgendeinen Künstler, vielleicht in Wien, der an Weihnachten Ähnliches tut? Der die Unbehausten beschenkt, bewirtet, sich von ihnen umarmen lässt – und dann noch ein Konzert gibt! Wenn auch nur fünf Lieder plus Zugabe. Und eine der Zugaben war eben die Hertha-Hymne.

Wobei ich anmerken muss, dank meiner DDR-Sozialisation eher für Union Berlin zu jubeln. War eine schöne Zeit: Wenn beim Heimspiel die Gästemannschaft einen Freistoß bekam, rief das halbe Stadion: »Die Mauer muss weg!« Aber das nur nebenbei. Anders als etwa in Hamburg zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV gibt es zwischen Hertha- und Union-Fans keine Feindschaft. Hat es nie gegeben. Wenn die Hertha in der DDR weilte, zu Freundschaftsspielen, pilgerten immer auch Unioner hin und feuerten die andere Berliner Mannschaft an. Und bei der Gelegenheit kam es dann immer zur Fraternisierung, hatten die Hertha-Fans doch steigenweise bestes Dosenbier dabei! Aber so viel sei auch gesagt: Hertha ist eben Westberlin. So auch ihre Hymne, bei allem Respekt für Frank Zander. Unsere Hymne singt Nina Hagen: Eisern Union!

In der aktuellen Saison standen wir in der Bundesliga bereits sieben Spieltage an der Tabellenspitze, während die alte Hertha gegen den Abstieg kämpft. Und wie alles an diesem Klub ist auch die Hymne provinziell: ein kitschiges Rod-Stewart-Cover. Bitte! Und dann auch noch Sailing! Im Estrel aber, als sich die Obdachlosen besoffen in den Armen lagen und sangen: »Nur nach Hause geh’n wir nicht«, war das ein Erlebnis. Der Geist der Weihnacht, an diesem Abend war er da! Dabei ist der Text recht simpel gestrickt: »Ich sitze da, am runden Tresen und der Wirt zapft noch ein Bier / Hier treff ich die alten Freunde und dann diskutieren wir / Über all die krummen Dinge, die passiert sind, irgendwo / Sowieso, woho, woho / Und sowieso, woho, woho.« Und dann der besagte Refrain.

Offenbar muss an und in der Melodie irgendwas sein, was die Leute derart berührt. Das meinte auch Frank Zander. In seinem Studio habe ich ihn danach besucht, in der Witzlebenstraße, nahe dem Funkturm. Mexikanisches Bier haben wir getrunken. Und ich weiß noch, dass er versucht hat, Udo Lindenberg an Bord zu holen. Zander und Lindenberg sind irgendwie verwandte Seelen, auch wenn Lindenberg mehr Rock ’n’ Roll ist. Man könnte doch gemeinsam die Kosten für die Party stemmen, sagte Zander. Und vom Programm her hätte die Verstärkung gut gepasst: Votan Wahnwitz und Bodo Ballermann, warum nicht? Aber dazu kam es nicht. Jahr für Jahr sammelte Zander für seine Weihnachtsfeier bei irgendwelchen Promis Geld, und sicher wird auch Udo Lindenberg was gegeben haben. Das Event selbst aber nahm ihm niemand ab. Im Übrigen war der Strassenfeger deshalb auch Mitveranstalter; durch unseren Verein konnten die Spenden von der Steuer abgesetzt werden. Und auf Spenden war Zander angewiesen. Mit den Jahren war ihm das Projekt, so schien es, wirklich über den Kopf gewachsen.

Der große Erfolg lag bei ihm schon lange zurück. Obwohl er mir voller Stolz im Studio seine neue Goldene Schallplatte zeigte – für die ganz persönliche Geburtstagssingle. 250.000 verkaufte Exemplare. Aber zu welchen Produktionskosten! Frank Zander hatte ein und dasselbe Geburtstagslied mit hunderten Vornamen eingesungen. Es gab also nicht eine Single, sondern hunderte. »Alle Namen?«, habe ich gefragt. Und Zander: »Fast alle.« – »Welche denn nicht?« – »Na zum Beispiel Adolf.« Und wieder wurde mir warm ums Herz. Ein Antifaschist ist Frank Zander also auch noch. Er wollte nicht, dass seine Platte auf irgendeiner Hitler-Geburtstagsfeier aufgelegt wird.

Außerdem war Frank Zander sehr fürsorglich. Nach der Weihnachtsfeier im Estrel, beim Abbau der Anlage, entdeckten seine Leute eine Frau, die in den Planen eingewickelt war und dort ihren Rausch ausschlief oder bewusstlos war. Niemand konnte sich erklären, wie die Dame da reingekommen war. Der Chef aber sorgte dafür, dass sofort der Rettungswagen kam. Bei meinem Besuch fragte er mich nach ihr. »Nach Hause ist sie nicht«, sagte ich. Und Zander: »Ich weiß.«

Inzwischen bin ich seit vielen Jahren aus der Obdachlosenszene raus; am Ende war ich völlig erschöpft und ausgebrannt. Frank Zander aber ist mit seiner Familie immer noch aktiv. Während Corona hat er mit einem Foodtruck auf dem Alexanderplatz Essen an die Obdachlosen verteilt.

Für die Weihnachtsfeier geben jetzt auch immer irgendwelche Politiker Geld. Als Gegenleistung dürfen sie dann – für die Kamera – den Kellner spielen. Die Veranstaltung hat dadurch ein wenig ihre Unschuld verloren. Ich meine, wenn ich Franziska Giffey sehe, mittlerweile unsere Regierende Bürgermeisterin, wie sie Gänsebraten an Obdachlose verteilt, wird mir übel. Frau Ex-Doktor und demnächst womöglich auch Ex-Bürgermeisterin täte gut daran, das Ergebnis aus dem Volksentscheid vor zwei Jahren zur Enteignung der großen Berliner Wohnungskonzerne umzusetzen. Aber so ist das wohl bei allen guten Projekten, irgendwann kippen sie. Mit dem Christentum war es so, mit dem Kommunismus auch. Und mit Frank Zanders Weihnachtsfeier wird das nicht anders sein. Solange er aber allen die Hand reicht und dieses eine Lied singt, ist alles in Ordnung.


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