Hegemonie des Ich-Ideals

von Simon Stockinger

442 wörter
~2 minuten
Hegemonie des Ich-Ideals
Isolde Charim
Die Qualen des Narzissmus
Über freiwillige Selbstunterwerfung
Paul-Zsolnay-Verlag, 2022, 224 Seiten
EUR 24,70 (AT), EUR 24,00 (DE), CHF 32,90 (CH)

Narzissmus: Kaum ein anderer Begriff funktioniert dieser Tage so gut als Selbstversicherungs- und Abgrenzungsformel. Niemand will es sein, alle haben ein Bild, und alle wissen, dass der Horrorclown Donald Trump den Idealtypus dieses gesellschaftszersetzenden Phänomens verkörpert. Narzissmus gilt dem liberalen Alltagssprech als individuelle Pathologie, die gesellschaftlichen Schaden anrichtet.

Die Wiener Philosophin Isolde Charim kommt in ihrer Analyse zu einer gänzlich anderen Einschätzung. Sie untersucht Narzissmus als die hegemoniale Ideologie der Gegenwart und damit als zentral für jene alte Frage, die bereits Spinoza gestellt hat: Wie kommt es, dass die Menschen »für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil«? Charims zentraler theoretischer Bezugspunkt ist die Ideologietheorie des strukturalistischen Marxisten Louis Althusser, der zufolge Ideologie die in ihr befangenen Subjekte nicht nur unterwirft, sondern zuallererst hervorbringt, und zwar in einer Operation, die er als »Anrufung« bezeichnet: Subjekte entstehen durch das Anerkennen von Rufen, die ihnen Identitätsposten zuweisen. Charim greift diesen Marx und Lacan vermittelnden Theorieansatz auf und behauptet, Narzissmus sei die heute vorherrschende »Anrufung«. Sie diagnostiziert, stets an Begriffen der Psychoanalyse orientiert, eine »Ich-Idealgesellschaft«, deren zentrale ideologische Forderung nicht mehr Verbot und Mäßigung, sondern Selbst-Steigerung nach Maßgabe eines nie erreichbaren Idealbildes ist.

Damit reiht sich der Essay ein in die anhaltende Diskussion um den Neoliberalismus und dessen Fähigkeit, innere Antriebe zu mobilisieren. Charim greift diese Debatten auf und wendet sich dann doch von ihnen ab; luzide argumentierte Brüche, die einem Kritikmodus treu bleiben, der Paradoxien und Widersprüche produktiv macht, anstatt sie diskursiv aufzulösen. Der Wiener Essayist Franz Schuh hat diese Methode in einem Interview mit ihr treffend beschrieben: »Das ist fast hegelianisch, von der Ästhetik her, nicht vom Inhalt.«

Zuletzt kulminiert die Analyse allerdings in einer problematischen Zuspitzung. Ausgerechnet im Postulat der geschlechtlichen »Selbst-Identifikation«, das Charim dem Trans- und Queer-Diskurs zuschreibt, will sie den »Höhepunkt« und die »Reinform« der narzisstischen »Moral« erkennen. Diese Stoßrichtung mag einem Unbehagen an identitätspolitischen Tendenzen innerhalb der Linken entstammen, aber selbst bei der wohlmeinendsten Lesart bleibt völlig unklar, warum ausgerechnet deviante Geschlechtlichkeit die Avantgarde des Narzissmus sein soll und nicht vielmehr jene heteronormativen Rollenbilder, die tatsächlich hegemonial sind. Zudem macht die Zuspitzung hinsichtlich Trans- und Queer-Aktivismus das Schweigen zu einer wesentlich mächtigeren Tendenz unüberhörbar: Worin besteht die Verbindung zwischen Narzissmus und antisemitischer, rassistischer oder sexistischer Abwertung? Der eigene, nicht eingestandene Befreiungswunsch wird im tatsächlich oder vermeintlich Abweichenden erkannt und dort verachtet. Ist nicht gerade der rechte Hass auf »alles mit Gender« eine solche Projektionsleistung mit narzisstischer Befriedigungsgarantie? Dieses notwendige, regressive Korrelat zu den Qualen der freiwilligen Selbstunterwerfung blendet Charim leider völlig aus.

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